Die in Spanien seit einiger Zeit galoppierende Inflation ist mittlerweile auf einem historischen Hoch angekommen. Im März ist die Rate um 9,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen, was der höchsten Inflationsrate seit Mai 1985 entspricht und knapp fünf Mal so hoch ist wie das von der Europäischen Zentralbank gesetzte Ziel von 2 Prozent.
Das historische Niveau, das das Nationale Institut für Statistik (INE) am Mittwoch bestätigte, ist demnach insbesondere auf die immens gestiegenen Energie- und Lebensmittelkosten zurückzuführen. Im Jahresvergleich wären die Strompreise in dem südeuropäischen Land um 137,9 Prozent angestiegen, dies konnte laut INE durch Steuererleichterungen auf eine Rate von immer noch 107,8 Prozent abgemildert werden. Während Energie über das vergangene Jahr etwa die Hälfte der gesamten Inflation ausmachte, wirkte sich dies auf weitere Verbraucherpreise aus, von denen einige an sich weiter im Preis stiegen – so etwa Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke, deren Rate auf 6,8 Prozent anstieg.
Das Wirtschaftsinstitut Funcas (Fundación de Cajas de Ahorro) hatte Ende März die Wachstumsprognose für die spanische Wirtschaft für dieses Jahr auf 4,2 Prozent gesenkt – 1,4 Punkte weniger als im Januar erwartet – und gleichzeitig die Inflationsschätzung auf 6,8 Prozent im Jahresdurchschnitt nach oben korrigiert. Im vergangenen Jahr war die Regierung in Madrid für die Zeit nach der Pandemie noch von einem Wachstum von bis zu 7 Prozent ausgegangen.
Laut dem Generaldirektor von Funcas, Carlos Ocaña, wird das Wachstum in diesem Jahr nur noch 2,5 Prozent unter dem BIP vor der Pandemie liegen. Weiter betonte Ocaña, dass "der Schlüssel für die spanische Wirtschaft in der Empfindlichkeit der Energiemärkte gegenüber dem derzeitigen externen Umfeld liegt". Funcas warnte, dass der Wachstumspfad des Landes in hohem Maße von der Entwicklung der Kosten für Brennstoffe und Elektrizität abhänge. Sollte sich der Krieg in der Ukraine zuspitzen und der Preisanstieg länger als erwartet anhalten, werde das Wachstum der spanischen Wirtschaft weiter "deutlich" zurückgehen.
Derzeit gibt es mehrere Unsicherheiten bezüglich der Quellen spanischer Energieimporte, insbesondere in Nordafrika. Dennoch betonte der deutsche Botschafter im Land Wolfgang Dold die künftige Bedeutung Spaniens für die Gasversorgung Europas: "In erster Linie wegen seiner Verbindungen nach Nordafrika, nach Algerien und auch nach Marokko", sagte Dold im Interview mit der spanischen Zeitung La Vanguardia Ende März. Er sprach sich für die Fertigstellung der Gaspipeline MidCat von Spanien nach Südfrankreich mit einer Jahreskapazität von 7,5 Milliarden Kubikmetern aus, die im Jahr 2019 gestoppt worden war, weil das Projekt zu dem Zeitpunkt wegen des billigeren Erdgases aus Russland für unwirtschaftlich gehalten wurde. Die Finanzierung des Baus soll Brüssel übernehmen.
Spanien bezieht einen erheblichen Teil seines Erdgases über Pipelines aus Algerien. Zudem gibt es im Land sechs Flüssiggasterminals sowie einen weiteren in Portugal. Die spanischen Anlagen sollen eine Jahreskapazität von 60 Milliarden Kubikmetern haben, von denen das Land nur die Hälfte für den Eigenbedarf nutzt. In Richtung Norden gibt es von Spanien bisher nur zwei kleinere Gaspipelines über die Pyrenäen mit einer Kapazität von insgesamt 8 Milliarden Kubikmetern pro Jahr. Spanien könnte auch Flüssiggas aus den USA und anderen Ländern weiterleiten oder für eine spätere Umverteilung in Europa auf dem Seeweg speichern.
Doch gerade die energiepolitischen Kalkulationen Spaniens mit Algerien könnten ins Wanken geraten, nachdem Madrid gegenüber Marokko im jahrzehntelangen Streit um die Westsahara in diesem Jahr einlenkte. Madrid unterstützt seit Kurzem den Vorschlag Marokkos, die Westsahara zu einer autonomen Provinz unter marokkanischer Souveränität zu machen. Bisher hatte Madrid für ein Referendum über die Zukunft der früheren spanischen Kolonie südlich von Marokko plädiert, die rund 600.000 Einwohner hat.
Seit dem Abzug der Spanier 1975 hält Marokko den größten Teil des dünn besiedelten Wüstengebiets an der Atlantikküste Nordwestafrikas besetzt. Die Bewegung Frente Polisario kämpft dort für die Unabhängigkeit. Immer wieder kommt es in der Westsahara zu Gefechten zwischen Polisario und der marokkanischen Armee. Selbst in Spanien ist die Wende in der Westsahara-Politik äußerst umstritten, das Parlament hat diese früher im April mit einer klaren Mehrheit von 168 zu 118 Stimmen von Konservativen und auch der Linkspartei zurückgewiesen. Premierminister Pedro Sánchez und der spanische Außenminister José Albares haben angekündigt, die Lösung der Westsahara-Frage weiterhin durch ein von den Vereinten Nationen unterstütztes Referendum zu unterstützen.
Im Mai vergangenen Jahres hatten die Beziehungen zwischen Madrid und Rabat einen Tiefpunkt erreicht, als innerhalb von 36 Stunden mehr als 8.000 Menschen von Marokko aus in die spanische Nordafrika-Exklave Ceuta stürmten. Madrid warf Rabat damals "Erpressung" vor. Man war davon überzeugt, dass die Grenzkontrollen gelockert oder gar ausgesetzt wurden, um Madrid im Streit um die Westsahara unter Druck zu setzen. Zuvor, im vergangenen April, war Marokko verärgert darüber, dass Spanien dem Führer der Unabhängigkeitsbewegung für die Westsahara auf Ersuchen von Marokkos Nachbarland Algerien erlaubte, sich in einem spanischen Krankenhaus wegen COVID-19 behandeln zu lassen. Rabat wird in Madrid sowohl im Kampf gegen radikale Dschihadistengruppen als auch beim Zurückhalten einer wachsenden Zahl afrikanischer Migranten, die auf der Flucht vor Gewalt und Armut nach Europa gelangen wollen, als entscheidend angesehen.
Auf die "abrupte Kehrtwende" Spaniens reagierte Algerien, das mit Marokko im Streit liegt, verärgert. Das sei ein "Verrat" an dem Volk der Westsahara. Als Schutzmacht der Polisario-Front tritt Algerien für die Unabhängigkeit des Gebietes ein. Im März rief Algier seinen Botschafter aus Madrid zu Konsultationen zurück.
Spanien hat bis zum Ende vergangenen Jahres fast die Hälfte seines Erdgases aus Algerien bezogen. Seither sind Berichten zufolge, die sich auf Zahlen vom spanischen Gasnetzbetreiber Enagás berufen, die Vereinigten Staaten zum Hauptexporteur von Erdgas nach Spanien geworden. Demnach hat Spanien im Februar gut 32 Prozent aus den USA bezogen, im Gegensatz zu 23 Prozent aus Algerien. Die LNG-Einfuhren aus den USA kamen über Tanker. Einfuhren aus Algerien erreichten Spanien über die Medgaz-Pipeline, während die durch Marokko verlaufende Maghreb-Europa-Pipeline, die bis zum vergangenen Jahr ebenfalls Gas gen Norden geleitet hatte, wegen der Spannungen zwischen den beiden nordafrikanischen Ländern geschlossen wurde.
Zwar gibt es langfristige Lieferverträge mit der algerischen staatlichen Produzentenfirma Sonatrach, und laut Berichten, die unternehmensnahe Quellen zitieren, werde Sonatrach seine Lieferungen vertragsgemäß erfüllen. Doch könnte Algier die Preise weiter anheben. Zwischen den Mittelmeerländern könnte Analysten zufolge der Wettbewerb um Gas aus Algerien und Libyen zunehmen, da europäische Länder versuchen, alternative Quellen zu russischen Energielieferungen zu finden. In der Tat haben sich in dieser Woche Vertreter Spaniens und Italiens getroffen, nachdem die Pläne Roms, mehr Gas aus Algerien zu beziehen, in Madrid Sorgen über die Verhandlungsposition gegenüber Algier sowie über die Stabilität der Gasversorgung aus dem nordafrikanischen Land auslösten.
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