Dass der Armeegeneral Alexander Dwornikow jetzt Russlands militärischen Sondereinsatz in der Ukraine leiten soll, wurde bisher nicht offiziell bestätigt. Diese Information beruht lediglich auf Berichten verschiedener ungenannter Quellen. Und dennoch macht sie nicht nur in den sozialen Netzwerken russischer und ukrainischer Nutzer die Runde, sondern gleichermaßen auch in den Medien in Russland, der Ukraine und sogar im Westen, wo etwa die BBC auf die "Bestätigung" seitens eines "westlichen Beamten" in einem ungenannten Ressort verweist. Es lohnt sich also anzuschauen, was die Beorderung für den weiteren Verlauf des Einsatzes bedeuten könnte.
Alexander Dwornikow, Jahrgang 1961, ist ein Karriereoffizier, Abgänger der Militärakademie des Generalstabes der Streitkräfte der Russischen Föderation. Der heutige General und zuletzt Kommandeur des südlichen Militärbezirks der Russischen Föderation blickt auf die Teilnahme an zwei Konflikten zurück:
Im zweiten Tschetschenienkrieg befehligte er ein Regiment, das unter anderem an der Erstürmung von Grosny, der Hauptstadt der Republik, beteiligt war. Im Syrienkrieg hatte Dwornikow vom September 2015 bis Juni 2016 den Befehl über das gesamte russische Streitkräftekontingent, das Damaskus zur Hilfe dorthin umquartiert hatte. Der Militärexperte Konstantin Siwkow analysierte die Ergebnisse von Dwornikows Kommando in Syrien und erklärte, welchen Sinn dessen Einsatz – sofern wahr – für die Ukraine hätte.
Wer auch immer vor Dwornikow die Befehlsgewalt über den russischen Sondereinsatz hatte, dem sei nach eineinhalb Monaten äußerst anstrengender Arbeit eine Ruhepause gegönnt und eine Ablösung müsse bestimmt werden, erklärt der Vize-Vorsitzende der Russischen Raketen- und Artillerieakademie. Das allgemeine Rotationsprinzip für Soldaten und Offiziere auf dem Schlachtfeld gelte bei intensivem Planungsaufwand genauso für Stabskommandeure.
Neuer Kampagnenabschnitt – neuer Kommandeur
Doch vor allem, so der Doktor der Militärwissenschaften, befinde sich der Sondereinsatz nun in der zweiten Etappe. In der ersten Etappe sei es darum gegangen, die mobilen Einheiten der ukrainischen Streitkräfte zu zerschlagen. Diese hätten im Hinterland der russischen Streitkräfte und der Volksmilizen der beiden Republiken Gegenangriffe durchführen können, die Folge wären empfindliche Störungen bei der Durchführung der zweiten Etappe. Jetzt, in der zweiten Etappe selbst, bestehe die Aufgabe darin, die im Donbass eingekesselte Gruppierung der ukrainischen Streitkräfte aus ihren Befestigungszonen "herauszunagen". Damit ändere sich auch der Charakter der Kampfhandlungen, so Siwkow. Die ukrainischen Truppen hätten sich dort in lauter Befestigungszonen verschanzt.
"Das ist eine gänzlich andere Aufgabe, für die ein anderer Befehlshaber ausgesucht wird."
Und als Kommandeur des gesamten russischen Kontingents eigne sich General Dwornikow bestens, um diese befestigten Räume aufzubrechen:
"Er ist derjenige Mann, der die Aufgaben der Vernichtung der Befestigungszonen der Terroristen in Syrien löste. Er ist der Mann, der die Anwendung schwerer Hochpräzisionswaffen organisieren kann."
Bei den Letztgenannten geht es nach Siwkows Einschätzung nicht nur um die zuvor in der Ukraine schon gesehenen Lenkflugkörper wie Kalibr, Kinschal oder Iskander. Dazu gehören auch die per Laser, Satellit oder elektrooptisch präzisionsgelenkten Freifallbomben KAB-1500, die mit ihrem Gewicht von anderthalb Tonnen noch vor der Explosion über 20 Meter tief ins Erdreich eindringen oder drei Meter dicke Stahlbetonbefestigungen durchschlagen können. Die deutlich kleineren per Laser präzisionsgelenkten Mörsergranaten 1K113 "Smeltschak" für die 240-Millimeter-Panzermörser 2S4 "Tjulpan" wiegen immerhin noch 130 Kilogramm, inklusive gut 32 Kilogramm Sprengstoff, und fliegen knapp zehn Kilometer weit. Gerade Dwornikow sei es gewesen, der in Syrien in den Jahren 2015 und 2016 das Ruder herumgerissen habe – mithilfe schwerer Präzisionswaffen, aber eben nicht nur:
"Er konnte nicht nur die russischen Luft- und Weltraumkräfte erfolgreich einsetzen, sondern er brachte auch die syrische Armee, die vor seiner Ankunft überall die Flucht antrat, zum Kämpfen. Er ist ein harter und talentierter Organisator, ein Workaholic, der ihm unterstellte Menschen im selben Regime arbeiten lässt, in dem er auch selber arbeitet."
Dwornikows Organisationstalent darf wohl wirklich nicht unterschätzt werden: Unter dem Kommando des Generals im besagten Zeitraum in Syrien flogen russische Kampfflugzeuge über 9.000 Einsätze. Bei diesen Einsätzen und Lenkflugkörper-Angriffen aus dem Kaspischen Meer wurden über 200 Anlagen der Erdölförderung und -verarbeitung der verschiedenen Terrormilizen vernichtet. In Zusammenarbeit mit der russischen Luftwaffe konnten die russischen Bodentruppen und die syrischen regierungstreuen Streitkräfte und Milizen über 400 Ortschaften und 10.000 Quadratkilometer an Staatsgebiet Syriens befreien.
Auch die Rückeroberung Aleppos, wo sich Terroristen im Schutz von Befestigungen verschanzten, begann unter Dwornikows Kommando. Es wäre also nicht verwunderlich, falls die Information sich bestätigt, dass zum Aufbrechen der befestigten Gebiete der Kiew-treuen Truppen im Kessel von Donbass gerade Armeegeneral Alexander Dwornikow beordert wurde.
Siwkows Einschätzung, der zufolge Russlands militärischer Sondereinsatz in der Ukraine in einen neuen, vom vorigen durchaus unterschiedlich zu sehenden Abschnitt getreten ist, ist auch die eines weiteren Militärexperten: Scott Ritter. Der ehemalige US-Marine-Offizier teilt die Operation ebenfalls in Phasen auf. Die Aufgabe der ersten Phase sei es gewesen, das Gefechtsfeld (und damit meint er so gut wie die gesamte Ukraine) zu gestalten. Insgesamt beschreibt Ritter die Aufgaben innerhalb der einzelnen Phasen also breitgefächerter.
Neben dem von Siwkow bereits angesprochenen Zerschlagen mobiler Truppenverbände des Gegners sei eine der Kernaufgaben der russischen Truppen zu kontrollieren, wie und wohin sich die zahlenmäßig deutlich überlegenen Kiew-treuen Verbände bewegen können. Die Kämpfe nahe Kiew hätten genau dieses Ziel verfolgt – die ukrainische Armee dort durch eine Finte zu binden. Die Zerstörung von Treibstofflagern aus der Luft und mit Lenkflugkörpern diente demselben Zweck, so Ritter. Erweitert man den Gedanken der Gestaltung des Gefechtsfeldes, lässt sich noch die Zerstörung von Munitionslagern hinzufügen, damit der Gegner Munitionshunger leiden muss und bei der Möglichkeit offenstehender günstiger Manöver kleinere Chancen bekommt, diese auch auszunutzen.
Ebenso gehört das Erkämpfen der Luftüberlegenheit durch die Zerstörung von Fluggeräten und Flugplätzen sowie der Flugabwehr der ukrainischen Streitkräfte dazu. Jedenfalls haben beinahe all diese Aufgaben vom russischen Militär, vor allem auf dem Boden, die Führung eines Manöverkriegs erfordert, machte Ritter aufmerksam. Das von Siwkow als "Aufbrechen" zusammengefasste Belagern, Erstürmen und Durchkämmen von Befestigungszonen im Donbass-Kessel, das der russischen Armee und den Milizen der Volksrepubliken Donezk und Lugansk nun bevorsteht, könnte im Vergleich dazu wirklich eine etwas andere Denkweise vom Befehlshaber erfordern. Und die Ernennung von Dwornikow dürfte somit nicht der letzte Kommandeurswechsel beim russischen Sondereinsatz sein, folgerte Siwkow:
"Ist einmal die Aufgabe der zweiten Etappe gelöst, dann taucht möglicherweise wieder ein neuer Leiter auf."
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