von Wladislaw Sankin
Seit Sonntag überschlagen sich Berichte über angebliche russische Gräuel im ukrainischen Butscha bei Kiew. Bilder von mehr als einem Dutzend Leichen in ziviler Kleidung, verstreut nur auf einer einzigen Straße in einem Abschnitt von mehreren Hundert Metern, sorgten im Westen für Entsetzen. Fragen, ob die von Kiew präsentierte Version des Tathergangs glaubwürdig ist, kamen dabei nicht auf.
Dabei sind die Folgen des Vorwurfs sehr weitreichend: Die Ukraine schafft es wieder auf die Titelseiten der westlichen Presse, erhält noch mehr Waffen aus dem Westen und eine stärkere Verhandlungsposition bei den Friedensgesprächen mit Russland, Russland wird mit einem Tribunal gedroht, in den Medien wird das Land inzwischen als Hitlerdeutschland unserer Zeit behandelt. Genau diese Folgen des mutmaßlichen Massakers werfen Fragen auf.
Die erste ist eine grundsätzliche: Ist es eigentlich im russischen Interesse, die ukrainische Bevölkerung durch die sinnlose und wahllose Tötung von Zivilisten gegen sich aufzubringen? Das stünde völlig konträr zu den in den russischen Medien diskutierten Fragen, wie man das Vertrauen der ukrainischen Zivilbevölkerung trotz der Kriegshandlungen wiedergewinnen könne. Auch das offizielle Moskau gibt stets an, in der Ukraine nur gegen militärische Ziele zu kämpfen. Die Antwort ist hier also ein klares Nein.
Doch Krieg ist Krieg. Zivilisten sterben nicht nur wegen Fehlschlägen oder weil die Kriegsparteien einander in Wohngebieten bekämpfen. Da Kiew auch auf zivilen Widerstand, die sogenannte Territorialverteidigung und Guerillakampf setzt, stellen sich bei den russischen Soldaten offenbar extremes Misstrauen und damit verbunden Gewaltbereitschaft auch gegenüber unbewaffneten männlichen Zivilisten ein.
Das kann man mit einem Beispiel aus der Ukraine erklären. Selbst in den vom Kampfgeschehen entfernten Gebieten herrscht dort höchste Nervosität und Angst vor Spionage. Denn die Jagd in ukrainischen Städten auf angebliche russischen Spione und Saboteure kostete schon Dutzende unschuldige Zivilisten das Leben. Die bewaffneten Mitglieder der ukrainischen Einheiten der sogenannten Territorialverteidigung können nun auf alle schießen, die ihnen als Russen oder Kollaborateure mit den Russen erscheinen – dafür bekommen sie derzeit vom ukrainischen Gesetzgeber Straffreiheit.
Ein Video aus Butscha, das der bekannte ukrainische Neonazi und Kommandeur der paramilitärischen Einheit "Bootsman Boys" Sergei "Bootsmann" Korotkich am 2. April auf seinem Kanal veröffentlichte, bestätigt das. Als ihn einer seiner Kämpfer fragt: "Sollen wir auf jene schießen, die keine blaue Armbinde tragen?", antwortet er: "Na klar!" Blaue Armbinden sind ein Erkennungszeichen der ukrainischen Armee, genauso wie die weißen Armbinden der russischen. An den Armen von Zivilisten sollen sie signalisieren, dass sie der jeweiligen Armee gegenüber nicht feindlich eingestellt sind.
Warum sollte das aber in der russischen Armee andersherum sein? Die Angst vor ukrainischen Saboteuren, Aufklärern und Diversanten setzt auch beim russischen Militär die gleichen Dynamiken in Gang. Es ist Krieg, und die Wehrlosen können immer Opfer der Bewaffneten von beiden Seiten sein. In innerhalb der letzten zwei Tage veröffentlichten Berichten aus Butscha erzählen die Einwohner von der Atmosphäre in dieser Frontstadt während der russischen Besatzung. Diese war offenbar ziemlich angespannt.
So sagte ein Mann in einem Bericht der ukrainischen Nationalpolizei, dass die russischen Soldaten ihn wegen proukrainischer Symbolik in seiner Wohnung zu einem Verhör gebracht und ihn deswegen bedroht hatten. Gleichzeitg verteilten die Russen humanitäre Hilfsgüter an die Einwohner und machten mit ihnen alltägliche Tauschgeschäfte. Aber auf der Straße lauerte eine ständige Gefahr. Ein älterer Herr sagte dem US-Sender Radio Free Europe/Radio Liberty, dass er wegen eines Scharfschützen in seiner Wohngegend sein Haus wochenlang nicht verlassen hatte.
Es stellt sich die Frage: Warum musste ein Zivilist Angst vor einem Sniper haben? Die Geschichte weckt böse Erinnerungen an das bislang unaufgeklärte Scharfschützen-Massaker auf dem Maidan. Auf die Aktivität von Scharfschützen weist auch ein von der Nachrichtenagentur AFP befragter Mitarbeiter eines Bergungskommandos in Butscha hin, der erzählte, dass es in Butscha allein an einem Tag zehn Tote durch Kopfschuss gab.
Welcher Kriegspartei diese Scharfschützen angehören, ist natürlich völlig offen. Der Militärkorrespondent der russischen Zeitung Komsomolskaja Prawda Alexander Koz berichtete, dass Butscha im Unterschied zu vielen anderen ukrainischen Orten im Hinterland nicht vollständig in russischer Hand war. Die engen Straßen der Stadt sind heute von ganzen Kolonnen zerschossener russischer Militärtechnik umrahmt, was verbunden mit den Ruinen um sie herum für apokalyptische Bilder sorgt. Die Stadt erwies sich für die russische Armee offenbar viel eher als eine Falle denn als strategischer Geländegewinn.
Das Risiko eines Gewaltexzesses aufgrund der Verrohungszustände im Krieg ist also gerade in einer umkämpften Gegend sehr hoch, und die russischen Soldaten dürften hier keine Ausnahme sein. Und jede offizielle Behauptung – ob Schuldzuweisung oder Dementi –, egal, von welcher Seite sie kommt, muss während des Krieges mit besonderer Vorsicht betrachtet werden.
Doch die blitzschnelle, entschlossene und vor allem politische Reaktion des Westens und die allzu deutlichen Parallelen zum Jugoslawien- oder Irak-Krieg mit medialen Dämonisierungstechniken bieten eine klare Antwort auf die Frage, wem die Eskalation nutzt und wem nicht. Außerdem fiel die Ukraine seit Beginn der russischen Militäroperation schon mehrmals durch das Produzieren von Fake News auf. Das sind keine guten Voraussetzungen für eine unparteiische Aufklärung, ob die jeweiligen Verbrechen echt oder erfunden sind.
In diesem Zusammenhang weist der ehemalige UN-Waffeninspekteur Scott Ritter auf bisherige "Leistungen" der ukrainischen Propaganda hin und warnt im Fall Butscha vor voreiligen Schlüssen.
"Wenn es eine Leiche gibt, muss man sie zunächst forensisch untersuchen, einschließlich Obduktion, um Todeszeit und die -ursache festzustellen. Es muss auch die Tatsache geklärt werden, ob die Toten am Fundort starben oder dorthin gebracht wurden. Wenn die Ukrainer solche Behauptungen aufstellen, müssten sie auch entsprechende Ermittlungen einleiten und ihre Worte mit Fakten untermauern", sagte er RT.
Russland wies die Vorwürfe eines Massakers unmissverständlich zurück. Bislang ging die Argumentation bei diesem Dementi davon aus, dass die Toten an der Jablunskaja-Straße am südlichen Rand der Stadt dorthin gebracht worden sein könnten, um den Eindruck einer Massentötung zu erwecken und diese Russland in die Schuhe zu schieben.
Russland beschuldigt die Ukraine also der Inszenierung im Stile der syrischen Weißhelme. Als Argument von russischer Seite ist auch oft zu hören, dass einige der Toten weiße Armbinden trugen – ein Signal für die russische Armee, dass der Zivilist zu den "Freunden" zählt. Ein mögliches Angriffsziel wären sie damit nicht für das russische, sondern für das ukrainische Militär.
Russland weist zudem darauf hin, dass der Bürgermeister der Stadt am 1. April in einem Video strahlend verkündet hatte, dass die Stadt seit 31. März unter ukrainischer Kontrolle steht. Er sei in seiner Ansprache gut gelaunt gewesen, und nichts habe auf ein Massaker hingedeutet, das in seiner nur 30.000 Einwohner zählenden Stadt passiert war.
Auch ein Video der ukrainischen Nationalpolizei vom 2. April wird oft erwähnt – laut den im Video gezeigten Straßenschildern hielten sich deren Spezialeinheiten bei ihrem Kontrolleinsatz zumindest unweit der Jablunskaja-Straße auf, aber die an dieser Straße liegende Leichen werden im siebenminütigen Video von den Polizisten und Einwohnern weder erwähnt noch gezeigt. Die Atmosphäre im Video ist eher entspannt. Das könnte aber auch daran liegen, dass die Einwohner nach mehr als einem Monat Krieg in ihrer Stadt an Tod und Entbehrung gewöhnt sind und sich nun allen Problemen zum Trotz auf die Rückkehr zum Frieden freuen.
Das erste Video mit den Leichen auf der Jablunskaja-Straße war am 1. April im Netz aufgetaucht. Am nächsten Tag wurden die ersten westlichen Fotografen in die Stadt eingeladen, und bereits vormittags luden sie die ersten Bilder der Toten in die Datenbanken der Bildagenturen hoch. AFP zählte insgesamt 20 Tote, drei von ihnen lagen mitten auf der Verkehrsstaße, der Rest hauptsächlich am Straßenrand oder auf dem Bürgersteig.
Über den Zustand der Leichen war zunächst nichts bekannt, aber bei einigen Toten waren – so weit sichtbar – schon deutliche Verwesungstendenzen erkennbar. So war es bei einem Toten mit Fahrrad oder bei einem, der mit verbundenen Händen neben Palettenstapeln liegt.
Den Hinweis, dass zumindest ein Teil dieser Toten sich schon lange an dieser Stelle befindet, lieferte am Montag die New York Times. Bildanalysten der Zeitung analysierten Satellitenfotos von März und kamen zum Schluss, dass zumindest elf Tote seit 11. März an derselben Stelle liegen. Zu dieser Zeit war die Stadt unter der Kontrolle des russischen Militärs.
"Die Todesursache ist unklar. Einige der Leichen lagen in der Nähe von etwas, das wie ein Einschlagskrater wirkt. Andere standen neben verlassenen Autos. Drei Leichen lagen neben Fahrrädern", schreibt die NYT.
Ein Einschlagskrater ist beispielsweise in der Nähe eines gestürzten Fahrradfahrers zu sehen, dessen Haufarbe auf fortgeschrittene Verwesung hindeutet. Der Zeitpunkt seines Todes könnte also in der Tat in die erste Märzhälfte fallen. Damit könnte ein Teil der Opfer von einem Minenbeschuss getötet worden sein, denn dieser Teil der Stadt grenzte im Süden an ukrainisch kontrolliertes Territorium und wurde laut russischen Angaben ständig beschossen. In einem BBC-Bericht von der Jablunskaja-Straße ist zu sehen, wie ein nicht explodierter Granatenschweif am Straßenrand in der Erde steckt.
Beschuss als Todesursache bestätigt auch ein Arbeiter der Munizipalität, der mit seinem Kommando in all den Tagen des Krieges die Toten barg und begrub.
"Es gibt viele Menschen, die durch Kugeln und Granatsplitter getötet wurden", sagte er in einem AFP-Bericht.
Viele Tote auf der Jablunskaja-Straße haben Einkaufstüten mit Lebensmitteln bei sich – sie waren offenbar ganz alltäglich unterwegs und wurden vom tödlichen Angriff überrascht. Auf nicht beabsichtigte Tötungen weist auch der Umstand hin, dass einige weiße Armbinden trugen, die schon wie erwähnt den russischen Soldaten signalisieren sollen, dass sie zu den "Freunden" zählen. Anderen wiederum wurden die Hände auf den Rücken gebunden.
Einige wurden laut Berichten der Fotografen mutmaßlich durch Kopfschüsse getötet. Beides zusammen ist ein Zeichen für eine Hinrichtung, was auf russische Verantwortlichkeit hindeutet. Für die Aufklärung müssten aber am besten Augenzeugen ausfindig gemacht werden. Direkt gegenüber vom Tatort befindet sich eine Hochhaussiedlung, und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass die Einwohner die Szene aus den Fenstern gefilmt haben könnten. Es ist unwahrscheinlich, dass 20 Menschen unbemerkt auf einer kleinen Fläche gleichzeitig getötet werden konnten.
Außerdem ist es für eine Stadt im Kriegszustand eher ungewöhnlich, dass so viele Passanten gleichzeitig auf einer Straße erscheinen, zumal sie am Stadtrand gelegen ist. Und sollten sie doch alle durch Erschießung gestorben sein, dann müsste es doch auch verwundete Überlebende geben, die vom Massaker erzählen könnten. Und warum wurde das städtische Bergungskommando auf eine solche Ansammlung von Toten in einer so kleinen Stadt über Wochen hinweg nicht aufmerksam? Der Tatort Jablunskaja-Straße wirft viele Fragen auf.
Auch in anderen Teilen der Stadt wurden an den Tagen nach dem Abzug der Russen Tote aufgefunden, die ihrem Zustand nach offenbar seit vielen Tagen dort liegen. Eine Leiche befindet sich in einem zerquetschen Fahrzeug – offenbar von einem russischen Panzer überfahren. In diesem Fall ist das klarer Hinweis für russische Schuld, allerdings könnte diese Tötung chaotischen Zuständen in der Stadt geschuldet sein, denn die russischen Konvois waren auch am Tag des Abzugs von der ukrainischen Artillerie stark beschossen worden, was ein Video einer Koordinierungsdrohne dokumentierte.
Aber es gibt auch andere Tote. In der Stadt gab es auch verbrannte Leichen, fünf erschossene Männer wurden angeblich im Keller einer Schule aufgefunden. Einem AFP-Bericht zufolge begruben viele Einwohner ihre toten Nachbarn und Verwandten in den Gärten, Wohnhöfen und nächstgelegenen Waldstücken. Auch in Mariupol, wo Hunderttausende Menschen wochenlang in den Kellern ausharren mussten und unter Beschuss des ukrainischen Militärs litten, hatten das sehr viele getan. Wenn ein Begräbnis nicht möglich war, dann wurden die Toten wenigstens mit einem Tuch verhüllt.
Verwunderlich ist jedoch, warum auf einem ganzen Straßenabschnitt in Butscha so viele Toten mitten auf einer Verkehrsstraße weder verhüllt noch weggeräumt wurden. Es waren allesamt Männer. Hatten ihre Familienangehörigen oder Freunde nicht nach ihren Vermissten gesucht? Außerdem brachen die städtischen Behörden nicht komplett zusammen, denn sie hoben mit Einwilligung des russischen Militärs bereits in der ersten Märzhälfte die erste Grube für einen Massengrab aus und begruben die ersten Toten dort am 12. März, weil der Friedhof wegen Kriegshandlungen unzugänglich war. Auch diese Fragen müssten geklärt werden.
Aber das Wichtigste wäre, die Namen der Toten auf der Jablunskaja-Straße und die genauen Umstände ihres Todes zu erfahren. Werden diese von der ukrainischen Seite bekannt gegeben, wird sie transparent handeln? Werden die Augenzeugen der mutmaßlicher Tötung vom russsichen Militär ausfindig gemacht?
Diese Fragen sind durchaus berechtigt. Denn es ist eher zu vermuten, dass die Offenheit der ukrainischen Seite stark davon anhängt, ob die gefundenen Fakten den Vorwurf eines russischen Kriegsverbrechens stützen oder nicht. Die von Russland geforderte Besprechung der Butscha-Tragödie vor der UNO wurde am Montag von der britischen Seite überraschend verhindert. Sollte der Westen glauben, dass Russland den Vorwurf der Kriegsverbrechen in Butscha kaum glaubwürdig abstreiten kann, müsste er die öffentliche Austragung der Debatte eher suchen, anstatt sie zu verhindern. Berichte, die diese Tage aus Butscha kommen, könnten bislang anhand einzelner Schicksale belegen, dass russische Soldaten "verdächtige" männliche Zivilisten entführten und töteten.
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