Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kündigte am 27. Februar im Bundestag nicht nur die finanziell umfangreichste Aufrüstung in der Geschichte der Bundesrepublik an, sondern bekräftigte auch den am Vortag verkündeten Beschluss seiner Regierung, Kriegswaffen an die Ukraine zu liefern. In einer Ansprache am Tag des Beginns der russischen Militäroperation in der Ukraine am 24. Februar sagte er, dass Moskau einen hohen Preis zahlen werde. Die bundesdeutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat ihre Zuversicht geäußert, dass Sanktionen Russland ruinieren werden.
Schwer beeindruckt von dieser Rhetorik – und vor allem angesichts der Verkündung Deutschlands, in die Ukraine Waffen liefern zu wollen – hat eine Gruppe von russischen Veteranen und Kindern des Großen Vaterländischen Krieges einen offenen Brief an die Bundesregierung und das deutsche Volk insgesamt geschrieben. Der Text wurde zunächst nur auf der Webseite des in Moskau ansässigen "Spirituellen Zentrums St. Johannes von Kronstadt" der Russisch-Orthodoxen Kirche unter der Überschrift "Die Tragödie in der Ukraine" veröffentlicht.
Am 6. März verlinkte der Russische Veteranenverband diesen Brief auf seiner Webseite und erklärte dazu, er unterschreibe "jedes Wort des Aufrufs". In dessen Vorspann heißt es: "Heute, da die deutsche Regierung beschlossen hat, tödliche Waffen an die Ukraine zu liefern, hat sich die Welt verändert – die Umrisse eines neuen Weltkrieges sind mehr als deutlich sichtbar. Und wieder einmal ist es Deutschland! Aber es gibt ehrliche Menschen in Deutschland, Antifaschisten, und wir hoffen, dass diese Botschaft bei ihnen ankommt."
Nun ist der vollständige Text des Briefes auf der Webseite der Zeitung "Junge Welt" in deutscher Übersetzung erschienen.
Der Brief beginnt mit der Feststellung, dass die russischen Überlebenden des deutschen Vernichtungskrieges den Deutschen selbst die barbarische Ausrottung ihrer Angehörigen verziehen haben – "den Gesetzen des menschlichen Zusammenlebens entsprechend". So aber sei es bis 2014 gewesen. Warum gerade dieses Jahr eine Zeitenwende sein sollte, erklärten sie im Text dann ausführlich. Im Jahre 2014 habe es in der Ukraine einen neonazistischen Staatstreich gegeben, den Deutschland nicht nur nicht verhindert, sondern auch noch unterstützt hätte.
Die Verfasser gehen bis in die Geschichte der umfassenderen westlichen Unterstützung der ukrainischen Bandera-Anhänger und sonstiger Nazi-Kollaborateure zurück und betonen, dass die Brutstätte dieses "menschlichen Abschaums" das nazistische Deutschland war.
"Wir hofften, dass sich die Deutschen – von einem elementaren Gewissen geleitet – nicht an dem offen faschistischen Staatsstreich in der Ukraine beteiligen würden. Schließlich wurde die auf ihn folgende Katastrophe der heutigen Ukraine von den direkten Nachkommen derjenigen herbeigeführt, die in der deutschen Armee ein besonderes Gesindel waren."
Aber "Ihr" Steinmeier habe sich entgegen all seinen Reden hinterhältig am Kiewer Putsch von 2014 beteiligt, "einem dem Wesen nach faschistischen Putsch". Deutschland habe es also wieder auf die slawische Welt und erneut gegen Russland abgesehen. Dies sei noch heimtückischer, denn aufgehetzt gegen die Russen werden deren engste Brüder, die Ukrainer. Das macht die Verfasser fassungslos über die Deutschen:
"Uns Veteranen dieses Krieges, seine Kinder, wühlt die Rolle der Deutschen auf. Denn Sie sind es, die genau wissen, aus wem die ukrainischen 'Nazibataillone' bestehen, und wer diesen neuen Faschismus hätte verhindern und stoppen können. Aber das haben Sie nicht getan! Allein deswegen sind Sie erneut vor der Geschichte verantwortlich. Sie sind eindeutig an der Vorbereitung der Ukraine auf einen Krieg mit Russland beteiligt."
Dann kommen die Verfasser auf den Donbass-Krieg zu sprechen. Es sei vom Bundekanzler Scholz verbrecherisch, den Völkermord dort an Russen öffentlich zu verhöhnen. Dies sei ein neuer "Drang nach Osten". Das Blutvergießen im Donbass könne der Auftakt zum Dritten Weltkrieg bedeuten. Und wieder sei Deutschland mit von der Partie. Die Veteranen gehen auch auf die Drohungen gegenüber Russland ein. An dieser Stelle wird der Ton besonders emotional:
"Von der hohen deutschen Tribüne in Berlin hören wir heute: 'Russland wird einen hohen Preis zahlen!!!' Eine Rede des Kanzlers von Deutschland! Undenkbar! Wir haben den Preis bereits bezahlt: 27 Millionen unserer Menschenleben. Genügt Ihnen das nicht?! Über welchen Preis reden Sie noch? Es gibt kein Haus in Russland, der Ukraine und Belarus, in dem 'dieser Preis' nicht gezahlt worden wäre. Und es gibt kein Haus in Deutschland, das nicht an dieser furchtbaren blutigen Barbarei teilgenommen hat! Schrecklich! Bestialisch!"
Am Ende des Briefes erinnern die Verfasser an die Nürnberger Prozesse. Sie seien fest davon überzeugt, dass die deutschen Waffen in den Händen von heutigen, jungen ukrainischen Nazis diesen Entnazifizierungsprozess zunichte gemacht haben. Die russische Militäroperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine erwähnen sie indirekt und ordnen sie als gerechten Kampf ein:
"Und wir, die letzten Veteranen dieses schrecklichen Krieges, verlassen diese Welt als Zeugen. Als Zeugen der Anklage! Und heute wird der Sieg unser sein, aber diejenigen, die gestern gestorben sind, oder diejenigen von uns, die heute sterben, legen Zeugnis von der Rolle des deutschen Volkes in der Menschheitsgeschichte der Welt ab – der blutigen Geschichte."
Wie eingangs erwähnt, wurde der Brief in solch emotional ungewöhnlich hoher Tonlage zuerst auf einer kirchlichen Internetseite veröffentlicht. Der Text erschien auch als Podcast. Der Podcast-Sprecher leitete ihn mit folgender Bemerkung ein:
"Unter diesem Brief würden zweifellos all jene unterschreiben, die diesen schrecklichen Krieg erlebt haben. Er enthält keine Bitten. Das ist Schmerz, Schmerz von Menschen, die diese Welt verlassen, die Enttäuschung mit sich nehmen werden, neuen Schmerz, neue Sorgen und Entrüstung. Es ist kein Hass. Die Russen sind nicht zum Hass fähig. Aber es ist Wut, gerechter Zorn, der Jahrzehnte nach dem Krieg wieder in ihre Herzen einzieht. Denn es ist unmöglich nicht wütend zu sein, wenn man sieht, wie alles, was heute noch für jeden russischen Menschen teuer ist, zertrampelt wird – der Sieg über Nazis, der Sieg über den Weltfaschismus, der wieder zurückgekehrt ist."
Die Bundesaußenministerin Annalena Baerbock dagegen hat vor der UN-Vollversammlung am 1. März die Waffenlieferung an die Ukraine allerdings ausgerechnet mit einer angeblichen historischen Verantwortung Deutschlands begründet, als sie sagte:
"Wir haben beschlossen, die Ukraine militärisch zu unterstützen, um sich gegen den Aggressor zu verteidigen, im Einklang mit Artikel 51 unserer Charta. Deutschland ist sich seiner historischen Verantwortung zutiefst bewusst. Deshalb sind und bleiben wir der Diplomatie und der Suche nach friedlichen Lösungen verpflichtet. Aber wenn unsere Friedensordnung angegriffen wird, müssen wir uns dieser neuen Realität stellen. Wir müssen verantwortungsbewusst handeln."
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