Am späten Sonntagabend wurde das Einkaufszentrum "Retroville" im Kiewer Podolski-Bezirk mit russischen Hochpräzisionswaffen beschossen. Es kam zu starken Bränden, Rettungs- und Bergungskräfte waren im Einsatz. Am frühen Morgen filmten die westlichen Medien die Folgen des Angriffs und posteten sie auf sozialen Medien. Der ukrainische Botschafter in Deutschland Andrej Melnyk leitete ein Video des Bild-Journalisten Paul Ronzheimer weiter und schrieb dazu:
"Das ist mein Bezirk von Kyjiw! Ihr russische Mistkerle werdet dafür bitter bezahlen"
Der Bild-Reporter sagte: "Die genaue Opfer-Zahl ist noch unklar. Was wir sehen, ist, welche Wucht diese russischen Raketen haben, welche Wucht sie haben, Ziele auch in Kiew zu zerstören. (...) Ein Bild des Grauens mitten in Kiew."
Später meldete der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko in einer Videoansprache Zerstörungen ziviler Infrastruktur und acht Tote infolge des Angriffs. Ob die Toten Zivilisten oder Militärangehörige waren, sagte er nicht. Mit Nachdruck warnte der Ex-Boxweltmeister die Einwohner Kiews vor Weitergabe von Daten über den Verbleib der ukrainischen Streitkräfte im Stadtgebiet:
"Bitte nehmt die Bewegungen der Militärtechnik nicht auf und stellt die Bilder nicht ins Internet. Bitte nehmt keine militärischen Kontrollposten, nehmt strategische Objekte der Verteidigung nicht auf! Helft nicht dem Feind!"
Offenbar hatte Klitschko für diese Warnung gewichtige Gründe, denn nur kurz nach dem russischen Angriff stellte sich heraus, dass Einwohner in sozialen Medien ihre Fotos und Videos posteten, die beweisen, dass das Einkaufszentrum seit Tagen von der Armee zu einem militärischen Objekt umfunktioniert worden war. So war auf einem Tik-Tok-Video zu sehen, wie Mehrfachraketenwerfer vom Gelände dieses Zentrums eine Raketensalve abfeuern.
Das Video wird mit Schimpftiraden anderer Nutzer kommentiert, dass man mit derlei Bildmaterial dem Feind nutze, indem man dem Feind die Waffenpositionen im Stadtgebiet meldet. Schnell fanden sich auch weitere Bildbeweise für die Nutzung von ziviler Infrastruktur durch das ukrainische Militär, wie etwa ein Foto, das ein Kiewer Designer auf seiner Facebook-Seite postete (der Kanal wurde später von ihm gesperrt). Das Bild zeigt ukrainische Militärfahrzeuge, die unter einer Überführung des "Sport Life"-Komplexes im Geschäftszentrum "Retroville" geparkt sind.
Die Weitergabe von militärisch relevanten Materialen wird in der Ukraine inzwischen mit einer langen Haftstrafe geahndet. Doch dies konnte die Flut an Hinweisen offenbar nicht verhindern. Die russische Militäroperation in der Ukraine brachte eine Reihe Internet-Kommentatoren zutage, die sich auf Informationen von Einheimischen stützen. Videos dieser Blogger werden inzwischen millionenfach abgerufen. So berichtete der Medienanalyst Michail Onufrijenko in einem seiner letzten Kommentare, dass Einheimische in Kiew ihm seit Langem die militärische Nutzung von "Retroville" gemeldet hätten:
"Die Örtlichen wissen es, und ich habe mit den Einwohnern dieses Bezirks schon mehrfach darüber gesprochen und sie haben mir jedes Mal das gleiche berichtet: Jede Nacht werden aus den Lagerräumen des Einkaufszentrums 'Grad' herausgefahren, sie schießen eine Salve ab und verstecken sich wieder. Dieses Mal haben sie es nicht geschafft, sich zu verstecken. Auf den verbreiteten Videos des Brandes ist zu sehen, dass nach dem Angriff zahlreiche Munition detonierte – man sieht zahlreiche Explosionsblitze."
Weiteren, offiziell noch nicht bestätigten Angaben zufolge hätten die ukrainischen Truppen in dem vernichteten Lagerhallenkomplex schwere 203-mm-Artillerie-Geschosse für sowjetische Selbstfahr-Haubitzen "Pion" gelagert. Diese seien zuvor in zahlreichen Videos aus Kiew zu sehen gewesen.
Hinweise darüber meldete unfreiwillig die Kiewer Polizei selbst, als sie auf ihrem Telegram-Kanal das Bild einer Hülse postete, die der Medienexperte Onufrijenko in einem seiner weiteren Kommentare als Teil eines detonierten Pion-Geschosses identifizierte. Das Abfeuern der Grad-Raketen aus diesem Bezirk Kiews werde auch durch Geodaten bestätigt, schloss er.
Vom ersten Tag der russischen Militäroperation in der Ukraine an gibt es zahlreiche Hinweise darüber, dass ukrainische Truppen ihre Stäbe, Stellungen und Munitionslager mitten in den Wohngebieten oder zivilen Einrichtungen wie etwa Schulen oder Krankenhäusern einrichten – zweifellos wissend, damit russisches Gegenfeuer auf diese Ziele zu provozieren. Die Einwohner der befreiten Städte in der Donezker und in der Lugansker Volksrepublik berichten übereinstimmend, dass ukrainisches Militär dort die Wohngebiete und zivile Infrastruktur vor ihrem Rückzug systematisch vernichtete. Ukrainische Behörden dementieren dies regelmäßig und beschuldigen hingegen Russland des Genozids an der ukrainischen Zivilbevölkerung.
Seit dem 24. Februar führt russisches Militär auf dem Territorium der Ukraine eine Operation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung und zum Schutz der Donbass-Republiken durch. Russland gibt an, nur gegen militärische Ziele zu kämpfen, und bietet der Zivilbevölkerung in den umkämpften Städten humanitäre Korridore an. Kiew wirft hingegen Russland gewaltsame Verschleppung der Evakuierten nach Russland vor.
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