Joschka Fischer, von 1998 bis 2005 deutscher Außenminister und Vizekanzler einer rot-grünen Bundesregierung, war am 16. März zu Gast auf dem internationalen Literaturfestival lit.Cologne in Köln, um sein neues Buch "Zeitenbruch: Klimawandel und die Neuausrichtung der Weltpolitik" vorzustellen. Am 17. März gab Fischer der dpa ein Exklusivinterview, in dem es um das Thema Ukraine und den daraus resultierenden Dynamiken ging. Fischer äußerte den Verdacht, dass für den russischen Präsidenten "die Demütigung durch die Auflösung der Sowjetunion ja die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen" sei. RP Online kommentierte den Aufritt Fischers bei der lit.Cologne mit den Worten:
"Jeans, Stiefeletten, weißes Hemd, dunkles Sakko – lässig präsentiert sich 'einer der letzten Rock'n'Roller der deutschen Politik' (Fischer über Fischer bei seinem Abschied von der politischen Bühne vor fast 17 Jahren) noch immer. Pralles Selbstbewusstsein, routiniert vorgetragene Analysen, aber auch Bereitschaft zu ehrlichen Einblicken in die eigene Befindlichkeit – so liebt das Publikum seine Stars."
Des Weiteren wird Fischer mit den Worten zitiert, dass er "nicht für möglich gehalten hätte, welche Grausamkeiten die Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin nun schon seit Wochen am ukrainischen Volk verüben" würden. Das Risiko eines militärischen Eingreifens gegen die Atommacht Russland sei laut Fischers Darlegung "enorm hoch": "Mit Feigheit hat diese Zurückhaltung nichts zu tun!", so das Grünen-Mitglied. Seine Gesamteinschätzung bezugnehmend der aktuellen Ereignisse auf dem Gebiet der Ukraine lautete:
"Aber während China technologisch mit Vollgas im 21. Jahrhundert unterwegs ist, hat Russland den Rückwärtsgang ins 19. Jahrhundert eingelegt, als territoriale Gebietsansprüche mit militärischer Gewalt durchgesetzt wurden."
Im Rahmen des dpa-Exklusivinterviews wurde Fischer nach seiner persönlichen Einschätzung gefragt, welche Ziele seiner Meinung nach der russische Präsident Putin mit seiner militärischen Aktion verfolgen würde. Fischer antwortete wörtlich:
"Er will die ganze Ukraine, weil das in seinem Weltbild die Voraussetzung für die Wiedergewinnung der russischen Hegemonie in Osteuropa ist. Und das ist wiederum die Voraussetzung für weitere Ambitionen. Daran hat sich noch nichts geändert, würde ich denken. Wie sich die Dinge weiterentwickeln, wissen wir nicht. Wir können nur das Beste für die Ukraine hoffen."
"Kern seines (Putins) Weltbildes", sei es, die Ereignisse "rund um die Auflösung der Sowjetunion zu revidieren", um seine Einschätzung vom Vortag zu wiederholen:
"Russland ist eine revisionistische Macht, die den Status quo, wie er sich seit Ende der 1990er Jahre entwickelt hat, zu seinen Gunsten verändern will, und dies eben auch unter Einsatz von militärischer Gewalt und Aggression."
Die aktuelle "Herangehensweise" der NATO im Konflikt sei in seinen Augen der richtige Weg:
"Kein Zentimeter NATO-Territorium, aber wir werden keine direkte militärische Konfrontation auf dem Boden der Ukraine suchen."
Das Verhalten der "Ukrainer" bezeichnete Fischer als "heldenmütig", damit hätte "Putin nicht gerechnet". Womit er (Putin) auch nicht gerechnet hätte, "ist die Entschlossenheit des Westens". Auf die Frage der dpa, ob "die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik jetzt endlich Realität wird" und daraus "vielleicht sogar europäische Streitkräfte" resultieren könnten, antwortete Fischer:
"Die Erfahrungen, die jetzt gemacht werden, sind sehr, sehr wichtig für das Entstehen einer neuen EU. Auch im atlantischen Raum wird sich sehr vieles neu sortieren. Mit einem stärkeren Europa wird die Bindung auch von der anderen Seite eher zu- als abnehmen."
Auf die mehrheitlich westliche Darstellung, dass "dass jetzt alles an einem einzelnen Menschen (Putin) hängt", so die dpa-Formulierung, äußerte Fischer:
"Das haben Autokratien so an sich. Das Vertrauen wiederherzustellen, wird unendlich schwierig. Ohne eine demokratische Revolution wird es fast unmöglich."
Der RP Online-Artikel erinnerte an die Rolle Fischers Mitte der 1990er Jahre, bezugnehmend der Kriegsereignisse im damaligen Jugoslawien: "Der gerade ins Amt gelangte Außenminister Fischer befürwortet die Mission mit deutscher Beteiligung und muss sie auf einem Sonderparteitag (der Grünen) verteidigen. Noch bevor er mit seiner Rede beginnt, wird er mit einem Farbbeutel beworfen. Sein Trommelfell reißt. Er wird kurz behandelt, redet dann aber trotzdem. "Nie wieder Auschwitz", lautet seine Botschaft, mit der er die Delegierten dann überzeugt."
Angesprochen auf das Thema NATO-Osterweiterung, "ob der Westen mit der NATO-Osterweiterung ein Versprechen gegenüber Russland gebrochen hätte", stellte Fischer klar:
"Wo wären wir denn heute ohne die NATO-Osterweiterung? Hätte man den Polen sagen sollen: Tut uns leid! Ihr seid nun mal auf der falschen Seite der Geschichte und bleibt es! Die einzige Osterweiterung wäre dann die deutsche Einheit gewesen. Diejenigen, die die Malaise verursacht haben, wären die einzigen Profiteure gewesen! Die NATO-Osterweiterung fand doch nicht statt, um Russland einzukreisen. Man kann ein Land mit elf Zeitzonen nicht einkreisen. Sondern die NATO-Osterweiterung fand statt, weil die Nachbarländer Russlands Russland nicht getraut haben. Hinzu kommt: Es sind europäische Nationen, die die europäischen Grundwerte teilen."
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