In einem Interview mit dem italienischen Nachrichtenmagazin "La Repubblica" am Freitag äußerte sich der britische Premierminister Boris Johnson über die aktuellen Geschehnisse in der Ukraine und das weitere Vorgehen des Westens und der Weltgemeinschaft gegen Russland.
Auf die Kämpfe um die ukrainischen Nuklearanlagen in Tschernobyl und Saporischschja angesprochen, erwiderte Johnson, dass es sich hierbei eindeutig um eine Angelegenheit der "gemeinsamen europäischen Sicherheit" handeln würde. "Unsere Sicherheit ist gleichermaßen betroffen, ebenso gefährdet durch einen solchen Angriff", warnte er.
Demnach würde laut Johnson, unabhängig von der momentanen Eindämmung des Zwischenfalls am Freitag, weiterhin das eindeutige Risiko eines radioaktiven Ereignisses bestehen, weshalb er sich Sorgen darüber mache, wie der Westen eine nukleare Katastrophe in der Ukraine verhindern könne:
"Es gibt noch andere ukrainische Anlagen, und es gibt sicherlich noch andere ukrainische Standorte für radioaktive Abfälle. Wir müssen unter anderem darüber nachdenken, wie wir zusammenarbeiten können, um eine solche Katastrophe zu verhindern. Ich glaube nicht, dass die Antworten einfach sind, aber wir müssen daran arbeiten."
Die "UNO und die IAEO vor Ort werden extrem wichtig sein", mahnte der britische Premierminister weiter, ohne näher zu erläutern, weshalb konkret er davon ausgeht, dass die Präsenz dieser Organisationen in der Ukraine, seiner Aussage nach zu urteilen, künftig notwendig werde.
Weiter sprach er über die gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen, welche "zum ersten Mal" eine "echte Auswirkung auf die russische Wirtschaft" hätten. Der Einbruch des Rubels sei "beträchtlich", schwärmte der britische Regierungschef. Gleichzeitig stellte er klar, wer durch die verhängten Sanktionen Großbritanniens und Europas wegen Russlands Eingreifen in der Ukraine eigentlich abgestraft werden soll. Nicht die russische Regierung, nicht der russische Präsident Wladimir Putin, nein. Die Sanktionen gelten Johnson zufolge der normalen Zivilbevölkerung:
"Der Anstieg der Zinssätze ist für den normalen russischen Verbraucher, für die Menschen, eindeutig eine Strafe."
In diesem Zusammenhang versicherte Johnson, dass Großbritannien zusammen mit seinen "europäischen Freunden" weiterhin "jeden Tag und jede Stunde" daran arbeiten werde, die "Maßnahmen, wo nötig", zu intensivieren. So sei das Paket jetzt bereits "sehr stark", bekundete der britische Premierminister gegenüber La Repubblica.
Die westliche Gemeinschaft wolle sicherstellen, die Maßnahmen abzuschließen und zu intensivieren, führte Johnson, erneut ohne weitere Details zu den zuvor benannten, neu geplanten Maßnahmen zu benennen, fort und räumte ein, dass es ihm so vorkomme, "als ob Wladimir Putin – und das wird durch die Geschehnisse deutlich – beschlossen hat, noch härter durchzugreifen":
"Er sieht keinen anderen Ausweg aus der Sackgasse, in der er sich befindet, als mit der Zerstörung, der Pulverisierung unschuldiger Menschen in unschuldigen europäischen Städten fortzufahren."
Weshalb der britische Premierminister den russischen Präsidenten des Vorhabens beschuldigt, europäische Städte "zerstören" und die dort lebenden Menschen "pulverisieren" zu wollen, geht aus dem Interview nicht hervor. Jedoch scheint es, dass dieses unwirkliche Szenario für die EU und das Vereinigte Königreich, aller Absurdität dieser Anschuldigung zu trotz, eine bereits Form annehmende Realität darstellt, auf die in naher Zukunft reagiert werden "muss", denn Johnson führte fort:
"Wir werden also gemeinsam mit einem verstärkten Paket reagieren müssen."
Der Westen dürfe die Anschuldigungen Putins, dem zufolge es bei dem entflammten Konflikt "um ihn gegen die NATO oder ihn gegen den Westen" ginge, nicht akzeptieren, forderte Johnson. Aus Sicht des Westens gehe es vielmehr "um das legitime Recht anderer europäischer Völker", den "Widerstand" der ukrainischen Bevölkerung zu "unterstützen". "Genau darum geht es", so Johnson.
Da Johnson die Anschuldigung, Putin fahre nun mit der "Pulverisierung unschuldiger Menschen in unschuldigen europäischen Städten" fort, in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und insbesondere mit den Vorfällen an den nuklearen Anlagen brachte, wollten die La Repubblica-Reporter von dem britischen Premierminister wissen, ob "nach den Ereignissen der letzten Nacht ein Atomkrieg oder ein nuklearer Zwischenfall" nun "näher oder wahrscheinlicher" ist.
Darauf antwortete Johnson, man müsse seiner Meinung nach "zwei Dinge ganz klar unterscheiden". Die Frage über den Einsatz von Atomwaffen im Rahmen eines "nuklearen Austauschs" sei nur "Rhetorik", welche der "Ablenkung" von dem diene, "was in der Ukraine passiert".
Es gehe vielmehr um die "Sicherheit von Kernkraftwerken und Atommüll", sagte Johnson. Dieses Thema sei erst zur Sprache gekommen, erläuterte er, als "die russischen Truppen Tschernobyl einkesselten und einnahmen". Die westliche Gemeinschaft sei daraufhin "sehr beunruhigt" gewesen. Johnson zufolge soll der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij sehr besorgt darüber gewesen sein, was am Freitag in der Atomanlage bei Saporischschja geschehen ist, so Johnson weiter:
"Er glaubte, dass die Anlage im Besitz der tschetschenischen Guerilla sei und dass diese etwas sehr Unverantwortliches tun würde. Ich bin besorgt. Wir müssen gemeinsam nach Wegen suchen, wie wir diese Katastrophe abwenden können, denn ich glaube, dass dies eine gesamteuropäische Katastrophe wäre. Die berechtigten Sorgen aller europäischen Länder sind hierin mit einbezogen."
Auf die Frage, ob der britische Premierminister besorgt darüber sei, dass es in der Ukraine Medien-Berichten zufolge Söldner, möglicherweise tschetschenischer Herkunft gebe, "die versuchen, Präsident Selenskij zu töten", entgegnete Johnson, der Westen müsse alles in seiner Macht Stehende tun, um Selenskij zu helfen und deutete an:
"Es gibt ganz offensichtlich sehr finstere und mächtige Kräfte, die versuchen, diese Sicherheit zu gefährden. Das ist eine Tragödie, und diejenigen, die dahinter stecken, müssen zur Rechenschaft gezogen werden."
Darauf angesprochen, was Johnson davon halte, dass der französische Präsident Emmanuel Macron, im Unterschied zu allen anderen westlichen Staats- und Regierungschefs, den Dialog mit Putin weiterhin aufrechterhält, gestand der britische Regierungschef zu, dass es innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft durchaus Differenzen über den richtigen Umgang mit Russland gebe. Der Westen habe "bevor die Invasion" begann, "mit Emmanuel zusammengearbeitet, um zu verstehen, was die Auswirkungen sein würden", erklärte Johnson. Auch weiterhin sei es sehr wichtig, als geschlossene Gemeinschaft, "insbesondere mit den Amerikanern", zusammenzuarbeiten, "um eine gemeinsame Reihe von Annahmen und Prioritäten in Bezug auf den Konflikt zu haben":
"Die Lektion der Geschichte von 1914 bis Bosnien und darüber hinaus ist, dass die schlimmsten europäischen Konflikte leider nicht ohne ein gewisses Maß an amerikanischem Interesse und Führung gelöst werden. Auch das wird sehr, sehr wichtig sein."
Trotz aller aktuellen Geschehnisse in und um die Ukraine schloss der britische Regierungschef eine bewaffnete Konfrontation des Westens mit Russland weiterhin aus. Jedoch verwies er darauf, dass sich vor ein paar Wochen auch niemand vorstellen konnte, "dass so viele europäische Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen und so viele Waffen schicken würden, wie sie es tun." Weiterhin hätte sich auch niemand vorstellen können, "dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz eine Rede wie die seine gehalten hätte und Deutschland in der Lage wäre, in der es sich jetzt befindet. Die Dinge ändern sich", sagte Johnson:
"Was ich damit sagen will, ist, dass sich der Westen schon sehr weit bewegt hat und sehr, sehr geeint ist. Aber bis zu einer direkten Konfrontation zwischen den westlichen Streitkräften – den britischen, italienischen, deutschen, spanischen – und den russischen Streitkräften ist es noch ein weiter Weg. Die Folgen eines solchen Engagements wären sehr, sehr schwer zu kontrollieren und zu bewältigen. Wir wüssten nicht, wo sie enden würden. Die Risiken einer Fehlkalkulation sind enorm. Sie sprechen von einer roten Linie ... wir müssen bei unserem Handeln eine konzeptionelle Grenze einhalten. Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht leidenschaftlich engagieren oder dass wir nicht alles tun, was wir innerhalb der von uns festgelegten Parameter tun können, um die Chancen für die Opfer zu verbessern."
Mehr zum Thema - Live-Ticker zum Ukraine-Krieg: Russland erklärt vorläufige Waffenruhe in Mariupol