Historiker: Die russischen Wurzeln der Ukraine zu ignorieren, ist geschichtsvergessen

Als Ostslawen blicken Ukrainer und Russen auf eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte zurück und sind dadurch weit enger miteinander verwoben, als westlichen Zeitungslesern bewusst sein dürfte. Mit viel Verständnis für die Region erklärt der Historiker Christian Osthold geschichtliche Hintergründe des Ukraine-Konflikts.

Eine Analyse von Dr. Christian Osthold

Wenn es nach europäischen Regierungschefs geht, ist der Sachverhalt eindeutig. Während die westliche Staatengemeinschaft das ukrainische Volk ermächtigen möchte, den Weg nach Europa zu beschreiten, trachtet der russische Hegemon danach, die Flamme der Freiheit im Keim zu ersticken. Der Konflikt zwischen Moskau und Kiew ist demnach mehr als die Auseinandersetzung zweier Staaten, deren Gesellschaften seit Jahrhunderten auf mannigfaltige Weise miteinander verbunden sind. Er ist das Sinnbild des Kampfes von Gut und Böse. Aber ist das wirklich so?

Die Wirkmächtigkeit dieses Narrativs ist dafür verantwortlich, dass in Europa heute kaum jemand dazu fähig ist, die aktuelle Lage in der Ukraine verlässlich einzuschätzen. Anstatt den realen Gegebenheiten nüchtern in die Augen zu blicken, neigen zahlreiche Spitzenpolitiker dazu, sie in die Schablonen moralischer Kategorien zu pressen. Dabei übersehen sie jedoch, dass Moral auf dem Parkett internationaler Politik keine harte Währung ist. Um die aufschäumende Stimmung kollektiver Hysterie etwas zu dämpfen, die seit Wochen in Deutschland um sich greift, möchte ich im Folgenden die wesentlichen historischen und politischen Zusammenhänge auseinandersetzen, die für ein tieferes Verständnis der Ukraine-Krise wichtig sind.  

Meinen Ausführungen lege ich eine Prämisse zugrunde, die vielen Zeitgenossen befremdlich erscheinen mag: nämlich, dass Staaten weder gut noch böse sind, sondern lediglich ihre vitalen Interessen verfolgen. Unterschiede bestehen hierbei vor allem darin, mit welchen Mitteln sie dies tun. Während sich manche Staaten ausschließlich auf die Diplomatie verlassen, gibt es andere, die im Bedarfsfall auch mit Waffengewalt Fakten schaffen. Der Ukrainekonflikt illustriert die Gegensätzlichkeit dieser Ansätze nicht nur in exemplarischer Weise, sondern zeigt auch, dass sich keiner seiner Protagonisten von moralischen Idealen leiten lässt. Um zu verstehen, welche Bedeutung die Ukraine für die russische Außen- und Sicherheitspolitik hat, ist es nötig, sich das historisch gewachsene Verhältnis beider Völker zu vergegenwärtigen.

Als die Ukraine im Spätsommer 1991 ihren Austritt aus dem sowjetischen Unionsverband erklärte und dies am 1. Dezember 1991 durch ein Referendum legitimierte, war die Transformation der nach Russland bedeutendsten Sowjetrepublik in einen souveränen Staat kaum mehr als ein formeller Akt. Obwohl Kiew nun erstmals vollumfängliche Souveränität erlangt hatte, konnte kein Zweifel daran bestehen, dass die Emanzipation von Moskau längst nicht jene Schwächung der russischen Einflusssphäre bedeutete, die dieser Prozess eigentlich suggerierte – und auf die man im Westen auch hoffte. Nur wenigen ist heute bewusst, mit welchem Erfolg sich Russland in jenen Tagen die Grundlagen für seine spätere Vormachtstellung schuf.

Nicht nur war es Moskau 1995 nach wechselhaften Verhandlungen gelungen, 81 Prozent der ausschließlich auf ukrainischem Territorium dislozierten sowjetischen Schwarzmeerflotte zu übernehmen. Auch hatte es sich die auf der Krim gelegene Hafenstadt Sewastopol als deren Stützpunkt gesichert. Mit dem Ziel, seinen Zugriff auf die sowjetische Erbmasse zu erhalten, hatte der Kreml zudem bereits am 8. Dezember 1991 – also drei Wochen, bevor die UdSSR am 31. Dezember zu existieren aufhörte – die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) geschaffen. Die Aufgabe dieses Gremiums war es, die ökonomische Konsolidierung der sowjetischen Nachfolgestaaten zu gewährleisten. Faktisch diente sie aber auch dem Zweck, den russischen Einfluss in den betreffenden Ländern sicherzustellen.

Die Tatsache, dass 1991 neben der Ukraine lediglich Weißrussland zu den Gründungsmitgliedern der GUS gehörte, lässt bereits jene organische Verbindung erkennen, die das russisch-ukrainische Verhältnis auszeichnet. Als Ostslawen blicken Ukrainer und Russen auf eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte zurück und sind dadurch weit enger miteinander verwoben, als westlichen Zeitungslesern bewusst sein dürfte. Das Zentrum des heutigen Staatgebiets der Ukraine ist gleichsam die Wiege der russischen Zivilisation. Als Großfürst Wladimir I. (gest. 1015) seine Kiewer Rus' 988 zum byzantinischen Christentum konvertierte, schuf er die Voraussetzungen dafür, dass auch das spätere Zarentum ein orthodoxer Staat sein würde. Das kulturelle Erbe, welches Russland bis heute nicht nur aus der Kiewer Zeit ableitet, sondern zudem auch uneingeschränkt mit der Ukraine teilt, bestand schon damals in weiten Teilen der materiellen, insbesondere aber in der geistigen Kultur.

Als der Metropolit von Kiew 1299 im Zuge des Mongolensturms in die russische Festung Wladimir emigrierte, kam es durch den Export der kirchenslawischen Liturgietexte zu einem bedeutenden Kulturtransfer, ohne den die heutige Identität Russlands undenkbar wäre. Bereits 1321 verlegte der Metropolit seinen Amtssitz nach Moskau, wo ein aufstrebendes Fürstentum entstanden war, an dessen Spitze sich Ivan IV. 1547 zum russischen Zaren krönte, bis Peter I. 1721 schließlich den lateinischen Titel "Imperator" annahm und das Zarentum Russland zum "Russischen Kaiserreich" erhob.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das östliche Slawentum in Russland und der linksufrigen Ukraine, also jenes Teils, der heute die Gebiete östlich des Flusses Dnjepr umfasst, bereits mehr als 400 Jahre entwickelt. Damit befand sich im frühen 18. Jahrhundert nicht nur die Hälfte des heutigen ukrainischen Staatsgebiets unter russischer Kontrolle, sondern war vielmehr schon immer ein genuiner Teil Russlands gewesen. Während die Länder der rechtsufrigen Ukraine zum 1569 von Kiew annektierten Polen-Litauen gehört hatten, verblieb der gesamte Süden in der Einflusssphäre des Osmanisches Reichs, wo das Khanat der Krimtataren als Vasall der Pforte herrschte.

Erst im Zuge der drei polnischen Teilungen, die 1772, 1793 und 1795 schrittweise zum Verschwinden der Rzeczpospolita führten, wovon neben Preußen und dem Haus Habsburg vor allem Russland profitierte, kam es zu jener Spaltung, die für den späteren Geburtsfehler der modernen Ukraine verantwortlich ist und am 24. August 1991 zur Schaffung eines Staates führte, den sich mit Ukrainern und Russen zwei slawische Völker miteinander teilten. Während Galizien 1795 unter österreichische Kontrolle geriet, fielen Weißrussland, Podolien und Wolhynien an das Zarenreich. Unter diesen Vorzeichen kamen in den genannten Gebieten zwei heterodoxe Kulturtraditionen zur Entfaltung: nämlich die lateinisch-katholische im Westen und die slawisch-orthodoxe im Osten.

Dass die katholische Tradition bereits in der Epoche Polen-Litauens gewirkt hatte und in Galizien durch den Anschluss an Österreich lediglich ihre Fortsetzung fand, bedeutete jedoch nicht, dass die dortige ostslawische Bevölkerung nun massenhaft von der Orthodoxie zum Katholizismus konvertiert wäre; wohl aber hatte sie zur Folge, dass hier eine enge kulturelle Anbindung an Mitteleuropa entstand. Nachdem das Zarenreich 1783 unter Katharina II. mit dem Krim-Khanat den letzten verbliebenen islamischen Anrainerstaat des Zarenreiches zerschlagen hatte, verblieb einzig Galizien außerhalb der russischen Grenzen, das am 30. Oktober 1918 aus dem Staatsgebiet Österreich-Ungarns herausgelöst und 1919 endgültig der Zweiten Polnischen Republik zugeschlagen wurde.

Es ist eine historische Tatsache, dass 1919 zwei Drittel des westlichen Staatsgebietes der heutigen Ukraine seit wenigstens 124 Jahren zu Russland gehört hatten, während die gesamten Ostgebiete auf einer Achse von Kiew bis Lugansk seit dem frühen 14. Jahrhundert mit wenigen, durch Kriege bedingten Ausnahmen dauerhaft russisch gewesen waren. Obwohl nach dem Ersten Weltkrieg kurzeitig verschiedene ukrainische Nationalstaaten existierten, wurde ihr Territorium bereits 1919 zwischen Polen und Sowjetrussland aufgeteilt, bis die Rote Armee im Russischen Bürgerkrieg schließlich weite Teile der Ukraine eroberte. Damit war die Grundlage geschaffen, auf der die Bolschewiki unter Zunahme ursprünglich russischer Gebiete am 30. Dezember 1922 die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik schufen.

An dieser Stelle ist es wichtig, die skizzierten Herrschaftsverhältnisse, von denen das Staatsgebiet der heutigen Ukraine bis 1922 geprägt war, auf die politische Lage nach 1991 zu übertragen. Dabei kann man auf folgende Formel zurückgreifen: Bis auf Galizien, dessen Hauptstadt Lemberg (Lwiw) ist, hatten sämtliche Gebiete der heutigen Ukraine vormals zu Russland gehört. Das betrifft zwei Drittel (!) des heutigen ukrainischen Staatsgebiets.

Die Kenntnis dieser historischen Zusammenhänge schärft das Bewusstsein dafür, dass die Ukraine sowohl kulturell, als auch im Hinblick auf ihre Bevölkerung faktisch auch ein russischer Staat ist. Hierzu muss man sehen, dass der überwiegende Teil der ukrainischen Bevölkerung seit jeher unter dem Einfluss der slawisch-orthodoxen Tradition stand und demnach eng mit Russland verbunden war. Die Vorstellung, Ukrainer zu sein, ergab für die Masse der autochthonen slawischen Bevölkerung der heutigen Ukraine bis ins 19. Jahrhundert eher wenig Sinn, schon gar keinen nationalen. Überhaupt ist der Begriff "Ukraine" zunächst nichts weiter als ein Derivat des russischen Substantivs "Okraina", dessen deutsche Entsprechung "Mark" bedeutet.

Die Ukraine war demnach ein Randgebiet des Zarenreichs. Ihre Bewohner waren ostslawische Bauern, die aus Sicht des Zentrums zwar einen regionalen Dialekt sprachen, deswegen aber nicht als Träger einer von Russland getrennten Nation fungierten. Die enge Verwandtschaft, die zwischen Ukrainern und Russen besteht, kommt auch in dem veralteten Begriff "Kleinrussen" zum Ausdruck, der bis 1917 gebräuchlichen Terminologie für die Bewohner Weißrusslands und der Ukraine. Diese historisch gewachsene Bindung wollten sowohl die in Galizien als auch die weiter östlich lebenden westlich geprägten ukrainischen Kultureliten seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Jahrhundert lösen.

Dies gelang jedoch nicht. Stattdessen setzte in der UdSSR schließlich ein Prozess ein, in dessen Verlauf jene Bevölkerungsteile nachhaltig russifiziert wurden, die untereinander nicht die russische Standardvarietät sprachen. Dazu kam es, als immer größere Teile der Dorfbewohner – zu einem nicht unerheblichen Teil auch in Folge der verheerenden Hungersnöte, die das Land zwischen 1932 und 1933 heimsuchten – in die Städte abwanderten, wo sie das Russische als Amts- und Verkehrssprache erlernten, um in der UdSSR arbeits- und kommunikationsfähig zu sein.

Obwohl das Russische und das Ukrainische heute zwei voneinander getrennte Standardsprachen sind und sich ihre Sprecher lediglich über nicht allzu abstrakte Sachverhalte austauschen können, waren die kulturellen Unterschiede in der Sowjetunion derart gering, dass Mischehen nicht mehr als solche empfunden wurden, sondern eine Selbstverständlichkeit darstellten. Bei dem indigenen "Ukrainer", der vom Land in die Stadt zog und dort russischsprachig wurde, handelt es sich um eine Erscheinung, die der Historiker Jörg Baberowski mit dem von Klaus Mehnert postulierten Begriff des "Sowjetmenschen" beschrieben hat.

Erst nach der Wende, als das Moskauer Primat am 24. August 1991 ein jähes Ende fand, schlug das politische Klima im Land um. In der demokratischen Ukraine begannen westukrainische Kultur- und Machteliten, deren Tradition vor allem in Galizien wurzelte, unverzüglich damit, ihre Vorstellungen als einzig legitime Maßgabe bei der Gestaltung von Staat und Gesellschaft durchzusetzen. Diese wiederum basierten auf dem exklusiven Modell des ethnischen Nationalstaates. Während man diese, aus dem 19. Jahrhundert stammende Idee in Brüssel bis heute mit regelrechter Abscheu als obsolet zurückweist, hatte man keine Probleme damit, sie jener westlich orientierten ukrainischen Führung als tragfähiges Konzept zu attestieren, die aus der Organgenen Revolution hervorgegangen war.

Gemäß den Überzeugungen nationalistischer Politiker aus der Westukraine sollte dem modernen ukrainischen Staat nur angehören, wer sich unumwunden zum Ukrainertum bekannte und folglich eine rigorose Demarkation gegenüber Russland akzeptierte. Dazu gehörte auch die krude Phantasie, ausschließlich das Ukrainische zur verpflichtenden Verkehrssprache zu machen.

Unmittelbar, nachdem sich die Opposition in Kiew erfolgreich an die Macht geputscht hatte, leitete sie rigide Maßnahmen gegen die russische Bevölkerung ein. In diesem Zusammenhang wurde am 23. Februar 2014 das Gesetz "Über die Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik" außer Kraft gesetzt. Dieses war seit dem 10. August 2012 in Kraft gewesen und hatte dem Russischen überall dort den Status einer offiziellen Amtssprache verschafft, wo der russische Bevölkerungsanteil wenigstens 10 Prozent betrug.

Der politische Konflikt zwischen Kiew und Moskau, der 2014 zur Annexion der Krim führte und aktuell erneut zu eskalieren droht, ist demnach zu einem großen Teil auch auf den Widerstand jener Bevölkerungsteile zurückzuführen, die wegen ihrer kulturellen Zugehörigkeit zu Russland ein föderatives Modell favorisieren und eine Assimilation im Sinne westukrainischer Politiker ablehnen. Kurzum: Die Russen der Ukraine wollen auch in Zukunft Russen bleiben.

In einem folgenden 2. Teil beschäftigt sich der Autor mit der politischen Dimension des Ukraine-Konflikts.

Mehr zum Thema - Britische Zeitung Sun blamiert sich mit "genauer Uhrzeit der Ukraine-Invasion"