Darstellung des Kremls als Kriegstreiber ist faktenwidrig – Historiker zum Ukraine-Konflikt (Teil 2)

Seit Wochen befindet sich die europäische Diplomatie im Ausnahmezustand, wobei der Westen Russland Kriegsabsichten unterstellt. Aber wie realistisch ist ein Waffengang im Osten? Und stimmt es, dass Russland die parlamentarischen Demokratien Europas zerstören will?

von Christian Osthold

Zweiter Teil der Analyse des Historikers Dr. Christian Osthold, den ersten Teil unter dem Titel "Die russischen Wurzeln der Ukraine zu ignorieren, ist geschichtsvergessen" lesen Sie hier.

Kein Staat ist gut beraten, seine Außenpolitik ausschließlich mit historischen Argumenten zu begründen. Gerade in Europa, wo sich die politische Landkarte allein im 20. Jahrhundert dreimal grundlegend verändert hat, hätte dies katastrophale Folgen. Gleichwohl können historisch wirksame Prozesse aber auch nicht einfach ignoriert werden. Das gilt auch und gerade für den Ukrainekonflikt. Auch wenn westliche Medien unisono das Gegenteil behaupten, geht es in der Ukraine nicht primär um den systemischen Widerstreit von parlamentarischer Demokratie und oligarchischer Autokratie, sondern um harte geopolitische Machtinteressen.

Auf der einen Seite steht Russland, das in vielfacher Hinsicht eng mit der Ukraine verbunden ist, weite Teile ihres Gebiets sowie die darin lebenden Menschen als eigene Bevölkerung betrachtet und darin von dieser auch bestätigt wird. Noch bedeutender ist das Folgende: Als Rechtsnachfolgerin der UdSSR ist die Russische Föderation nach 1991 im Westen gedemütigt worden. Nicht als Partner, sondern als dysfunktionalen Staat mit alkoholkrankem Präsidenten nahm man sie wahr, den man weder politisch noch ökonomisch ernst zu nehmen bereit war. Diese vielfach an Arroganz grenzende Überheblichkeit liegt der divergenten Entwicklung des europäisch-russischen Verhältnisses seit 1991 im Kern zugrunde.

Nicht nur bedingte sie, dass die ernst gemeinten Annäherungsversuche, die Wladimir Putin in den ersten Jahren seiner Amtszeit als russischer Präsident unternahm, kein Gehör fanden. Stattdessen hatte sie auch und gerade eine konsequente Missachtung russischer Interessen in Osteuropa zur Folge. Dazu zählt vor allem die Erweiterung der NATO, die einen klaren Verstoß gegen geltende Absprachen darstellte und jedwedes Vertrauen unterminierte. Wenn westliche Staatschefs heute behaupten, es gäbe keine entsprechenden Verträge, dann gehen sie dabei geflissentlich darüber hinweg, dass die politische Neuordnung Europas nach dem Ende des Kalten Krieges unter der Voraussetzung erfolgte, dass die NATO künftig nicht nach Osten expandiert. Dass die damalige sowjetische Führung das Gegenteil akzeptiert hätte, ist nicht darstellbar. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass man ihr die Räumung Mitteleuropas mit beflissenen Zusagen schmackhaft machen wollte.

In diesem Zusammenhang sei etwa auf die Erklärung Manfred Wörners verwiesen, der in seiner Funktion als NATO-Generalssekretär am 17. Mai 1990 in Brüssel erklärte: "Schon der Fakt, dass wir bereit sind, die NATO-Streitkräfte nicht hinter den Grenzen der Bundesrepublik zu stationieren, gibt der Sowjetunion feste Sicherheitsgarantien." Dass sich diese Zusage wohl auf das Territorium der DDR bezog, ist letztlich bedeutungslos. Entscheidend ist einzig, dass die spätere Ausbreitung der NATO auf mehrere Staaten des Warschauer Pakts von Moskau als akute Bedrohung gesehen wurde. Dass Wörners Erklärung ferner die conditio sine qua non für die deutsche Wiedervereinigung zum Ausdruck brachte, scheint man in Berlin längst vergessen zu haben. Während die letzten russischen Truppen Deutschland zum 31. August 1994 verließen, sind die Amerikaner bis heute geblieben.

Nach der Jahrtausendwende stellte sich heraus, dass man Russland zu früh abgeschrieben hatte. Anstatt im Chaos der 1990er Jahre zu versinken, gelang es der russischen Führung unter Wladimir Putin, Staat und Gesellschaft zu konsolidieren und den Anspruch Russlands als Großmacht selbstbewusst durchzusetzen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz hielt Putin 2007 eine vielbeachtete Rede, in welcher er keinen Zweifel daran ließ, dass Moskau einer drohenden Einkreisung durch die NATO nicht untätig zusehen würde. Dabei machte er deutlich, die Osterweiterung des Militärbündnisses habe keinen Bezug zur Sicherheit in Europa, sondern sei ein provozierender Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senke. Obwohl Putins Rede im Westen für große Empörung sorgte, wurden seine in München ausgesandten Warnzeichen abermals ignoriert.

Ein Jahr später zeigte sich dann, dass Russland zu jenen Staaten gehört, die ihren Worten auch Taten folgen lassen. Als der georgische Staatspräsident Saakaschwili 2008 im Vertrauen auf amerikanische Sicherheitsgarantien militärisch gegen Südossetien vorging, fuhr er im darauffolgenden Krieg eine krachende Niederlage ein. Die Unterstützung seiner westlichen Partner erhielt er nicht, dafür aber den endgültigen Verlust Südossetiens und Abchasiens. Mit seinem Waffengang hatte Russland der internationalen Gemeinschaft gezeigt, dass es eine Verletzung seiner genuinen Einflusssphäre nicht länger hinzunehmen bereit war.

Trotz des georgischen Desasters setzte sich das ungestüme und politisch törichte Vordringen westlicher Mächte in den postsowjetischen Raum auch in der Folgezeit fort. Die 2014 erfolgte Annexion der Krim, die seit 1783 zu Russland gehört hatte, bis Nikita Chruschtschow sie 1954 der ukrainischen SSR zuschlug, war die Reaktion auf den Euro-Maidan. Die mit ihm in Verbindung stehenden Proteste waren aufgeflammt, nachdem der ukrainische Präsident Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der EU auf russischen Druck nicht hatte unterzeichnen wollen. Der nun drohende Verlust Sewastopols als Stützpunkt der russischen Südmeerflotte stellte ein Risiko dar, das der Kreml unmöglich eingehen konnte. Als ich 2011 die Krim bereiste, habe ich mit eigenen Augen gesehen, dass die dortige Bevölkerung nichts von einer Westintegration wissen wollte, sich klar zu Russland bekannte und es als ihre Schutzmacht betrachtete.

Während sich die westliche Presse nun darauf kaprizierte, Moskau in Anlehnung an das von Ronald Regan gestiftete Narrativ als "Reich des Bösen" zu inkriminieren und russische Interessen als Großmacht moralisch zu delegitimieren, schien niemand zu merken, wie absurd diese Sichtweise tatsächlich war. Schon damals stellte ich im Focus die Frage, was die USA eigentlich täten, wenn sie Gefahr liefen, durch eine Revolution auf Hawaii die Basis ihrer Pazifikflotte zu verlieren. Damals wie heute wäre die Antwort dieselbe: Wie jede Großmacht würde Washington Fakten schaffen und seine Interessen selbstverständlich auch mit militärischen Mitteln durchsetzen – genauso wie es 1982 auch Großbritannien tat, als Argentinien den britischen Anspruch auf die am anderen Ende der Welt gelegenen Falklandinseln infrage gestellt hatte. Die 1989 erfolgte US-Invasion Panamas war übrigens die größte Luftlandeoperation nach dem Zweiten Weltkrieg.

Unabhängig davon, wie man das von Moskau verkörperte politische System auch bewerten mag, ist die einseitige Darstellung des Kremls als Kriegstreiber faktenwidrig; eine auf diesem Dogma basierende Diplomatie kann daher niemals zur Entschärfung des Konflikts führen.

War es nicht Washington, das am 7. Oktober 2001 in Afghanistan einmarschierte, obwohl kein Afghane an den Anschlägen des 11. September 2001 beteiligt gewesen war? Und hatte nicht der amerikanische Außenminister Collin Powell der Weltgemeinschaft im UN-Sicherheitsrat am 5. Februar 2003 gefälschte Beweise vorgelegt, um mit der amerikanischen Besetzung des Iraks einen Krieg zu rechtfertigen, der Hunderttausende Menschen das Leben kostete, eine ganze Weltregion in den Abgrund von Krieg und Gewalt riss und letztlich zum Erstarken des Islamischen Staates führte? Wer diese Fragen unbeantwortet lässt, hat kein Recht, Moskau moralisch zu verurteilen und es pauschal als Aggressor zu inkriminieren, wie es der scheidende NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Januar 2022 gegenüber dem SPIEGEL getan hat. Fakt ist auch: Nicht Russland unterhält auf der ganzen Welt Militärbasen, sondern die USA.

Die deutsche Außenpolitik, die sich neuerdings dem Feminismus verschrieben hat, wird in der Ukraine kaum Erfolge verbuchen können, solange sie nicht anerkennt, dass nicht moralisches Wunschdenken, sondern die Fähigkeit von Staaten zur Durchsetzung ihrer Interessen für die Regulierung internationaler Krisen maßgeblich ist. Anstatt dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen und sich aus der russischen Einflusssphäre zurückzuziehen, kam es in den letzten Jahren zu weiteren Provokationen. Als der vormalige ukrainische Staatspräsident Poroschenko am 24. August 2017 an der Seite des amerikanischen Verteidigungsministers Mattis eine Militärparade in Kiew abnahm, an der sich erstmals auch NATO-Streitkräfte beteiligten, war aus russischer Sicht die nächste Eskalationsstufe erreicht. Bereits 2017 hatte ich im Focus davor gewarnt, dass eine solche Politik die Krise weiter vertiefen würde. Geändert hat sich seither wenig, außer, dass heute 130.000 russische Soldaten an der Grenze stehen.

Während es sich bei dem von Teilen der ukrainischen Bevölkerung gehegten Wunsch nach einer Westbindung um ein legitimes Anliegen handelt, bleibt der Ukrainekonflikt doch eine direkte Folge der Missachtung russischer Sicherheitsinteressen in Osteuropa. Er ist ferner Ausdruck der Weigerung, Moskaus Rolle als Großmacht in der Region anzuerkennen; und er ist schließlich auch die Manifestation des amerikanischen Strebens, die Russische Föderation als politischen Gegner auf dem Kontinent auszuschalten. Es wird deutlich, dass nichts davon mit dem Anliegen zu tun hat, den Bürgern der Ukraine ein besseres Leben in Demokratie und Marktwirtschaft zu verschaffen, auch wenn dieser Eindruck in der westlichen Öffentlichkeit geschürt wird. Dass die entsprechenden Bekenntnisse europäischer Politiker letztlich bloß leere Sprechblasen sind, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die EU nicht bereit ist, das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine zu verteidigen. Gleiches gilt für die USA, die bereits ihr diplomatisches Personal abziehen und Computer vernichten.

Diese Haltung allerdings ist in der Tat zutiefst amoralisch. Denn wenn man die Ukraine einerseits animiert, den Anschluss an Europa zu suchen, obwohl man weiß, dass dies den Konflikt mit Moskau eskalieren lassen kann, zugleich aber nicht willens ist, sie vor den Folgen einer Eskalation zu schützen, dann führt man die Ukraine auf einen gefährlichen Irrweg. Wenn Moskau heute überzeugt ist, sich zur Sicherung seiner Interessen nur noch auf militärische Maßnahmen verlassen zu können, dann tut es das nicht, weil es die parlamentarischen Demokratien Europas beseitigen will, sondern weil man im Kreml die bittere Erfahrung gemacht hat, dass auf die Zusagen der NATO kein Verlass ist.

Angesichts der fahrlässigen und wenig durchdachten Politik, die die Europäische Union seit Jahren gegenüber Russland betreibt, mag es eine Ironie des Schicksals sein, dass das griechische Wort Europa "Frau mit der weiten Sicht" bedeutet. Kein Bild könnte die Realität schärfer kontrastieren. In Wahrheit können EU-Diplomaten in Brüssel heute nicht einmal mehr verlässliche Prognosen über den nächsten Tag abgeben. Man fährt längst auf Sicht. Sollte es in Zukunft tatsächlich zu einem Krieg zwischen Moskau und Kiew kommen, wäre das eine Katastrophe, deren Folgen aus heutiger Sicht kaum abzusehen sind. Fest steht einzig, dass man der konfrontativen Politik des Westens dereinst einen erheblichen Anteil an der Eskalation des Konflikts wird zuschreiben müssen.

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