eine Analyse von Gert-Ewen Ungar
In der spanischen Zeitung El País wurde die Antwort von sowohl der NATO als auch den USA auf die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien veröffentlicht. Die als vertraulich eingestuften Dokumente wurden geleakt. Die schriftliche Antwort der USA und der NATO auf Russlands Forderung nach Sicherheitsgarantien war für Russland enttäuschend.
Sicherlich, diese Enttäuschung war absehbar. Nein, die USA und die NATO wollen Russland und damit Europa keine umfassenden Sicherheitsgarantien geben. Die Möglichkeit der Erweiterung der NATO soll bestehen bleiben. Die Freiheit der Wahl des Bündnisses wird in diesem Zusammenhang angeführt und dabei geflissentlich übersehen, dass diese Wahl des Bündnisses keineswegs bedingungslos offen ist. Diese Freiheit der Wahl der einzelnen Staaten ist an die Bedingung geknüpft, dass das Sicherheitsinteresse eines einzelnen Landes nicht zu einer Verletzung des Sicherheitsinteresses eines anderen Landes führen darf. Ist man an Frieden interessiert, ist dieses Prinzip des Ausbalancierens der Kräfteverhältnisse eigentlich logisch. Gegen dieses vertraglich festgelegte Prinzip wird auf dem europäischen Kontinent jedoch permanent einseitig verstoßen.
Wenn Russland die Garantie einfordert, dass weder Georgien noch die Ukraine in die NATO aufgenommen werden, dann fordert Russland lediglich die Einhaltung der bestehenden Verträge und Verabredungen, die im Rahmen der OSZE und ihrer Vorgängerorganisationen getroffen worden sind. Verweigern sich die USA und die NATO dieser Forderung, legt das den Schluss nahe, dass weder die NATO noch die USA ein Interesse an einer stabilen Sicherheitsarchitektur in Europa haben. Europa soll nach einigen Jahrzehnten eines immer brüchiger werdenden Friedens wieder zum Schlachtfeld, Russland wieder zum Gegner werden. Es stimmt tief traurig was in Europa gerade angesichts der eigenen, europäischen Geschichte heute wieder passiert.
Bei den Europäern, bei all jenen Menschen, die irgendwo zwischen Lissabon und dem Ural leben, sollten hier alle Alarmglocken läuten, denn ihr Schicksal wird erneut zum Spielball von aggressiver, geostrategischer Machtpolitik.
Es ist von enormer Wichtigkeit zu verstehen, dass die Antwort auf Russlands Forderung nicht nur für Russland unbefriedigend bleibt, denn die Sicherheitsinteressen Russlands sind für ganz Europa relevant. Werden sie missachtet und verletzt, gibt es für Europa als Ganzes keine Sicherheit. Das zu verstehen ist von vitaler Notwendigkeit. Diesen Zusammenhang sollte jeder Bürger auf dem europäischen Kontinent klar erkennen können. Fühlt sich das größte Land Europas bedroht, wird der Kontinent instabil. Russlands Sicherheitsinteressen sind daher immer auch die Sicherheitsinteressen Europas. Mit der Weigerung der USA und der NATO auf Russland zuzugehen, werden daher auch die Sicherheitsinteressen jeder europäischen Nation und jedes einzelnen Europäers verletzt.
Die Begründung für diese Weigerung ist von besonderer Bösartigkeit, denn sie stellt die Verhältnisse schlicht auf den Kopf. In den geleakten Dokumenten heißt es mit Blick auf Russland: "Keinem anderen Partner wurde eine vergleichbare Beziehung oder ein ähnliches institutionelles Rahmengerüst angeboten. Dennoch hat Russland das im Kern unserer Zusammenarbeit liegende Vertrauen gebrochen und die Grundprinzipien der globalen und euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur infrage gestellt."
Das ist nachweislich nicht wahr. Es ist daher notwendig, sich die Abfolge der Kündigungen der wichtigsten sicherheitsrelevanten Verträge vor Augen zu führen. Bereits 2002 haben die USA einseitig den ABM-Vertrag gekündigt. Der ABM-Vertrag untersagte die Stationierung von Raketenabwehrsystemen. Die zugrundeliegende Logik war, dass wenn einem Erstschlag notwendig ein nicht abwehrbarer Gegenschlag folgte, unterbleibt der Angriff. Erlaubt war laut Vertrag der Schutz eines einzelnen Zieles mit einem Raketenabwehrschirm. Die Sowjetunion entschied sich für den Schutz Moskaus, die USA schützten ihre Interkontinentalraketen.
2006 stationierten die USA dann einen Raketenschild in Osteuropa – angeblich zum Schutz Europas gegen die atomare Bedrohung aus dem Iran, der wohlgemerkt über gar keine Nuklearwaffen verfügt. Das Angebot Russlands einen gemeinsamen Schild im strategisch günstiger gelegenen Aserbaidschan zu errichten, lehnten die USA ab,
Es gibt inzwischen einen Wettlauf um Defensiv-Systeme zur Raketenabwehr, den die USA bisher allerdings verloren haben. Die russischen Raketenabwehrschilde sind technisch überlegen, was unter anderem in Syrien bewiesen werden konnte.
Auch das Open-Skies-Abkommen kündigten die USA einseitig. Es diente als vertrauensbildende Maßnahme, denn es erlaubte die gegenseitige Luftüberwachung. Nach der Kündigung versuchte Russland am Vertrag festzuhalten, was aber am Unwillen der europäischen Länder scheiterte, Garantien darüber abzugeben, dass gewonnene Erkenntnisse nicht an die USA weitergegeben werden.
Der wichtigste Vertrag wurde von den USA 2019 gekündigt. Der INF-Vertrag sah die Vernichtung von bodengestützten Atomwaffen kurzer und mittlerer Reichweite vor. Der INF-Vertrag kam einer Garantie gleich, dass Europa nicht Austragungsort eines Nuklearkriegs werden würde. Dieser Vertrag – für die europäischen Interesse von lebenswichtiger Bedeutung – wurde von zwei US-Administrationen aktiv hintertrieben. Bereits Barack Obama begann 2014 mit der Infragestellung des Vertrags. Die russische Seite bemühte sich um Transparenz und signalisierte deutlich ihr Interesse, diesen Vertrag erhalten zu wollen. Ausschlaggebend für den Ausstieg aus dem Vertrag waren schließlich in Kaliningrad stationierte Iskander-Raketen, die nach Auffassung der USA gegen den INF-Vertrag verstießen. Die Einladung zur Inspektion der Waffensysteme vor Ort wiesen sowohl NATO als auch die USA als Täuschungsversuch zurück. Sie verließen sich auf angeblich verlässliche Informationen ihrer Nachrichtendienste. Der wohl wichtigste Abrüstungsvertrag für Europa war damit Geschichte.
Die Liste ließe sich noch verlängern, wichtig ist, zu verstehen, dass sich nicht nur die NATO immer weiter nach Osten ausgedehnt hat, sondern dass zudem die in langjähriger diplomatischer Kleinarbeit in den Zeiten des Kalten Krieges erreichten Vereinbarung zur Sicherheit in Europa von den USA aufgekündigt worden sind.
Es ist nicht Russland, es sind die USA und die NATO, welche die Sicherheit in Europa bedrohen. Russland reagiert auf die Verschiebungen in der Sicherheitsarchitektur, löst sie aber nicht aus. Ausgelöst werden sie von den USA.
Eine klare Sicht auf diese Dinge und Zusammenhänge ist für Europa die Grundvoraussetzung, selbst zu einer aktiven, gestaltenden Politik zu kommen. Die EU ist leider unfähig, sich aus der für den europäischen Kontinent zunehmend bedrohlichen transatlantischen Partnerschaft auch nur in der Weise zu emanzipieren, dass es ihr gelänge, souverän an die Adresse der USA ihre konkreten sicherheitspolitischen Bedürfnisse zu formulieren.
Dass die USA laut den geleakten Dokumenten auf die zentralen Forderungen Russlands nicht eingehen, müsste Europa alarmieren. Dass es das nicht tut, deutet auf einen gefährlichen Zustand hin. Die EU ist unfähig, ihre vitalen Interessen eigenständig zu vertreten.
Es ist wichtig zu verstehen, dass mit seinen Forderungen nach Sicherheitsgarantien Russland die Interessen von ganz Europa formuliert hat, denn Russland ist unser Nachbar – die USA sind es nicht. Dauerhaften Frieden kann es aber nur in der Balance der Interessen geben. Die aktive Zerstörung dieser Balance durch die USA bereitet den Konflikt, bereitet Krieg vor.
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