Während mit den Spannungen um die Ukraine wieder zahlreiche Stimmen laut wurden, die sich für eine härtere Haltung gegenüber Russland und den Stopp von Nord Stream 2 einsetzen, hat die EU-Kommission am Mittwoch mit der Aufnahme von Gas in die Taxonomie einige Kritik auf sich gezogen. Mehrere Organisationen planen Proteste oder gar eine Klage. Dabei zeigt sich angesichts der Bemühungen auch der USA, alternative Gasversorger in Stellung zu bringen, dass russische Gaslieferungen für Europa und insbesondere Deutschland kaum zu ersetzen sind.
Finanzminister Christian Lindner erklärte, durch die Taxonomie – dem Rechtsakt der EU, durch den Energiegewinnungsmethoden als nachhaltig eingestuft werden – würden somit nun auch "private Investitionen in diesem Bereich ermöglicht". Gas sei für den Übergang zu erneuerbaren Quellen unverzichtbar, weil frühere Regierungen entschieden hätten, auf Kohle und Kernenergie zu verzichten. "Wir können nicht aus allem gleichzeitig aussteigen", betonte Lindner.
Wer die Einstufung von Gas in der sogenannten Taxonomie ablehne, gefährdet nach Meinung Lindners den Weg Deutschlands zu einer klimafreundlichen und am Ende klimaneutralen Energieversorgung. Vor allem aber braucht Deutschland russisches Gas, um überhaupt durch die Winter zu kommen und gleichzeitig die Stromerzeugung zu gewährleisten.
Denn obwohl durch Washingtons Initiative Energieerzeuger wie Katar oder Aserbaidschan Notgaslieferungen nach Europa zusagten, sind die von Russland gelieferten Mengen kaum zu ersetzen. Zudem bestehe weiter starker Bedarf bei anderen Großverbrauchern, insbesondere in Asien. Wie Katars Energieminister Saad Sherida al-Kaabi am Dienstag bestätigte, könnte das Land – einer der größten Erdgasexporteure der Welt – im Falle eines europäischen Engpasses aufgrund der Krise um die Ukraine den hiesigen Energiebedarf gar nicht decken.
"Die von der EU benötigte Gasmenge kann von niemandem einseitig ersetzt werden, ohne die Versorgung anderer Regionen der Welt zu stören", erklärte al-Kaabi.
Sollten Gaslieferungen aus Russland komplett ausbleiben, käme Europa laut einer Analyse der Brüsseler Denkfabrik Bruegel noch durch diesen Winter. Im Falle einer längeren Unterbrechung müsste die Nachfrage gedrosselt werden.
Der zunehmende Wettbewerb bei Flüssiggas (LNG) werde die Preise voraussichtlich hoch halten. Europa verlässt sich auf das LNG, um den Preisschock abzumildern. Nach Berechnungen von BloombergNEF wird jedoch erwartet, dass Asien bereits im Mai seinen Platz als Premium-Exportmarkt für US-Ladungen des Brennstoffs zurückerobern wird. "Die Vorstellung, dass wir die Lücke mit LNG füllen werden, ist nicht rational. Das ist physikalisch unmöglich, es gibt dafür nicht genug LNG auf der Welt", erklärte auch Ron Smith.
"Europa hat keine Alternative zu russischem Gas", machte auch Ron Smith, Senior Analyst bei BCS Global Markets, jüngst deutlich. "Man müsste die Hälfte des in Asien verbrauchten Flüssiggases umleiten, um Gazprom zu ersetzen. Und was würde das bedeuten? Das würde massive Energieengpässe in ganz Asien bedeuten, man würde die europäische Energiekrise nach Asien exportieren", zitiert Bloomberg den Experten.
Die Lieferungen aus Russland durch Alternativen wie LNG zu ersetzen, "wäre bestenfalls sehr teuer und schlimmstenfalls physikalisch unmöglich", heißt es bei Bruegel. Doch bereits jetzt ist Gas extrem teuer und für einige Verbraucher und Versorger unbezahlbar. Im vergangenen Jahr stiegen die Energiepreise rasant, zuletzt war Gas ungefähr viermal so teuer wie vor einem Jahr.
Die Abhängigkeit Europas von russischen Energielieferungen besteht aber nicht nur zu Zeiten geopolitischer Spannungen, wie die aktuelle mediale Aufregung um die Ukraine erneut glauben machen kann. Doch insbesondere vor diesem Hintergrund wird dem Kreml unterstellt, Öl und Gas als Machthebel zu missbrauchen. Angesichts der Krise um die Ukraine hieß es zugleich mit dieser Begründung, Nord Stream 2 solle womöglich gar nicht mehr zum Einsatz kommen.
Während die Pipeline so von den Abnehmern als Druckmittel gegenüber Moskau ins Spiel gebracht wird, erhielt der alte Vorwurf, der Kreml nutze die Energieversorgung als Machthebel, wieder neuen Auftrieb. Demnach sei Gazprom verantwortlich für die hiesige Misere, das Unternehmen soll die Gaspreise gar künstlich in die Höhe getrieben haben. Insbesondere Länder wie Polen beklagten, Gazprom liefere trotz der hohen Energiepreise nur wenig Gas in die EU.
Obwohl unwiderlegbar von mehreren Seiten, darunter die EU-Kommission, festgestellt wurde, dass das russische Unternehmen alle vertraglichen Verpflichtungen erfüllt, lamentieren mehrere Stimmen in der EU, dass Gazprom nicht mehr Gas liefere, um den erhöhten Bedarf zu bedienen.
Dabei ist das Dilemma hausgemacht. Selbst russlandkritische Stimmen wie die Energieexpertin des SWP Kirsten Westphal betonten dies mehrfach und erläuterten, dass verschiedene Faktoren zusammenkamen und die immensen Preissteigerungen nicht Gazprom oder gar dem Kreml zur Last gelegt werden können.
Unter anderem trugen klimatische Faktoren, darunter der auch in Russland deutlich längere Winter und die Hitzewellen, die wiederum einen erhöhten Strombedarf durch Klimaanlagen nach sich ziehen, einen Teil zur aktuellen Energiepreiskrise bei, wie auch die weltweit erhöhte Nachfrage nach den Einschränkungen durch die COVID-19-Pandemie.
Die Expertin verweist zudem darauf, dass die EU ihrerseits aus einer Position der Stärke heraus, zum Zeitpunkt eines hohen Gasangebots, die vertraglichen Verbindungen zum Nachteil Russlands geändert habe, sodass nun auch angesichts des erhöhten eigenen Bedarfs Russlands kaum zu erwarten sei, dass es rein aus gutem Willen zuerst die Gasspeicher der EU auffüllt.
Denn auch der historisch niedrige Füllstand deutscher Gasspeicher von nur noch 36,9 Prozent zu Beginn des Monats Februar ist auf die Politik der Bedarfsländer zurückzuführen, nicht auf den Anbieter. Zum einen warteten hier die zahlreichen kleineren Händler in einer Art Marktversagen einen niedrigeren Preis ab, um auf Vorrat zu kaufen. Dass diese Vielzahl an Händlern zwischengeschaltet ist, kann demnach ebenfalls auf politische Entscheidungen zurückgeführt werden. Mit dem Energiewirtschaftsgesetz stärkte Deutschland selbst den Markt, auf Kosten des Einflusses des Staates. Damit liegt die Versorgung der Endkonsumenten wie auch der Industrie bei privaten Firmen, die sich jedoch bis zu einem gewissen Grad nach Preissignalen am Markt ausrichten. Weiter sei das Buchungsverhalten nach der Änderung der Energiemarktregeln auf kurzfristige Lieferungen ausgelegt worden, auch aus der Position der Stärke gegenüber Russland heraus.
Auch im Hinblick auf die jahrelange Rhetorik, wonach man erneuerbare Energien stärken wolle, um die Abhängigkeit von Russland zu mindern, kann von Gazprom kaum erwartet werden, dass es nicht wie ein Unternehmen am Markt, sondern wie eine Wohlfahrtsorganisation zugunsten der europäischen Versorgung agiert, und das, bevor die eigene Bevölkerung versorgt wird.
Dass man sich für den Bau von Nord Stream 2 entschied, kann ebenfalls auf marktorientierte, energiepolitische Überlegungen zurückgeführt werden. Unter anderem führt der geplante Ausstieg aus der Versorgung mit Kohle und Atomkraft zu zusätzlicher Nachfrage. Weiter sei absehbar gewesen, dass die Gaslieferungen aus den Niederlanden planmäßig auslaufen würden, nachdem die Förderung des größten Feldes zu Erdbeben geführt hatten.
Obwohl die Nord Stream 2 AG zuletzt durch Gründung einer deutschen Tochtergesellschaft einer Auflage der Bundesnetzagentur nachgekommen war, ist eine schnelle Zulassung nicht zu erwarten, wie der Präsident der Bundesnetzagentur Jochen Homann Ende Januar unter Verweis auf noch ausstehende Prüfungen erklärte. Demnach sei ein Abschluss im ersten Halbjahr kaum mehr möglich.
Zudem hat Deutschland im Unterschied zu anderen Staaten für Gas keine konkreten Speicherobligationen, wie es sie beispielsweise für Öl gibt, obwohl hierzulande bei der Wärme- und beim Stromversorgung stark auf Gas gesetzt wird. Sollten nun auch für Gas staatliche Reserven aufgebaut werden, wie es jüngst von Vertretern des Energieriesen RWE befürwortet wurde, befürchten Kritiker, dass dies vor allem für Konsumenten noch höhere Kosten nach sich zieht.
Die erwarteten Entlastungen für Haushalte durch die vorgezogene Abschaffung der EEG-Umlage schon zur Jahresmitte statt bis 2023 könnten möglicherweise ausbleiben. Obwohl die Umlage zur Förderung des Ökostroms nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) dann aus dem Bundeshaushalt finanziert wird, seien Stromversorger als private Unternehmen rechtlich nicht dazu verpflichtet, die Ersparnis an die Kunden weiterzugeben. Das Bundeswirtschaftsministerium erwägt nun Möglichkeiten, die Preisgestaltung transparenter zu machen, sodass die Kunden diese besser nachvollziehen können.
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