Während US-Geheimdienste über eine bevorstehende "russische Invasion" in die Ukraine orakeln, hat der Kabelsender CNN die Grenzen des Landes bereits kurzerhand verschoben und die ostukrainische Millionenstadt Charkow als Teil Russlands bezeichnet. Die Ortsangabe erschien in der Sendung von CNN International am Dienstag, als die Chefkorrespondentin und Moderatorin Christiane Amanpour den NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zur aktuellen Lage in Europa befragte.
CNN zeigte unter angeblichem Verweis auf das russische Verteidigungsministerium Aufnahmen von gepanzerten Fahrzeugen, die eine winterliche Militärübung durchführen und fügte dem Ganzen eine Ortsangabe "Charkow, Russland" bei.
Die Meldung über den Fauxpas verbreitete sich rasend schnell im Internet und löste beim prorussischen Publikum unverhohlene Zustimmung aus. Der russische Journalist und Chef der globalen Agentur Rossotrudnitschestwo (russ. Pendant zum Goethe-Institut) Jewgeni Primakow konnte sich in seinem Telegram-Kanal die Ironie nicht verkneifen:
"Danke an CNN für unser Charkow!"
Primakow zeigte sich zuversichtlich, dass "im zivilisierten Fernsehen keine Lügen erzählt werden", zumal CNN als sehr seriöses Medienunternehmen gilt. Viele Kommentatoren schrieben aber auch, dass die Stadt vielmehr noch durch prowestliche Kräfte okkupiert sei, die alles unternehmen würden, um einen Keil zwischen Russen und Ukrainer zu treiben.
Der Disput über das plötzlich "russische" Charkow hatte auch den Instagram-Account des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij erreicht. Im Kommentar-Bereich unter einem Video schrieb ein beflissener Nutzer, dass Charkow zur Ukraine gehöre und die Stadt nicht von Russland besetzt werden wolle. Der ukrainische Präsident antwortete bald:
"Und es wird nie besetzt sein! Niemals! Denn Charkiw ist unsere Stadt mit unseren coolen Leuten."
Seit Monaten wird vor allem in der US-amerikanischen und britischen Presse viel darüber spekuliert, ob Russland nun in die Ukraine einmarschieren wird, von wo es seine Offensive starten und welche Teile des Landes Russland besetzen werde. Es war daher auch keine Besonderheit, dass ausgerechnet eine US-amerikanische Zeitung die Frage einmal ganz direkt an den ukrainischen Präsidenten richtete. So fragte ein Korrespondent der Washington Post in seinem am 20. Januar erschienenen Interview:
"Befürchten Sie, dass die Russen bestimmte Teile Ihres Landes einnehmen wollen – und – wenn ja – welche Teile? Könnten sie versuchen, eine Landbrücke von der Krim nach Russland zu bilden, die Mariupol oder einige der Wasserreserven oberhalb der Krim einschließt? Was ist der schlimmste Fall?"
Der Präsident der Ukraine hielt dabei vor allem die Einnahme von Charkow für möglich:
"Realistisch betrachtet würde ich sagen, wenn Russland beschließt, seine Eskalation zu verstärken, wird es das natürlich in den Gebieten tun, in denen es historisch gesehen Menschen gibt, die familiäre Verbindungen zu Russland haben. Charkiw, das sich unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung befindet, könnte besetzt werden. Russland braucht einen Vorwand: Sie werden sagen, dass sie die russischsprachige Bevölkerung schützen wollen. Nach der Besetzung und Annexion der Krim wissen wir, dass dies möglich ist und auch geschehen kann. Aber ich weiß nicht, was sie tun werden, denn es handelt sich um große Städte. Charkow hat über eine Million Einwohner. Es wird nicht nur eine Besetzung sein, es wird der Beginn eines groß angelegten Krieges sein."
Selenskijs Pressesprecher musste nach dieser Passage dann allerdings klarstellen, dass es sich um ein rein hypothetisches Szenario handelte und warnte davor, die Worte aus dem Zusammenhang zu reißen.
Auch der US-Präsident sorgte jüngst für Verwirrung, als er auf seiner Pressekonferenz am 19. Januar eine "geringfügige" Invasion Russlands in die Ukraine für denkbar hielt. Es sei nach seinen Worten zwischen einer kleinen Invasion und einem richtigen Einmarsch zu unterscheiden. Innerhalb der NATO gebe es jedoch noch Uneinigkeit, wie man dann reagieren solle:
"Es ist so eine Sache, wenn es sich um einen geringfügigen Übergriff handelt und wir uns am Ende darüber streiten müssen, was zu tun und zu lassen ist."
Nach einem regelrechten Aufschrei in der Ukraine, dass es keinen "geringfügigen" Einmarsch gebe, sah sich der US-Präsident dann zu einer nochmaligen Korrektur und Klarstellung veranlasst: "Jede geschlossene russische Einheit, die sich über die ukrainische Grenze bewegt, ist eine Invasion. Darauf werden wir mit einer strengen und koordinierten wirtschaftlichen Antwort reagieren."
Einige politische Beobachter sehen in der Häufung solcher "Irritationen" keineswegs zufällige Irrtümer, sondern strategisch durchdachte Züge. So weist der ukrainische Politologe im russischen Exil Wassili Stojakin auf den Zusammenhang zwischen den Äußerungen Selenskijs über Einnahme von Charkow in der Ukraine durch Russland und den "Irrtum" bei CNN hin:
"Es könnte sich also entweder um eine weitere Provokation der Medien handeln, um die Situation anzuheizen, oder ... oder beginnen die USA schon damit, ukrainisches Territorium abzugeben?"
Das im Nordosten der Ukraine gelegene Charkow ist mit seinen 1,5 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes und ein wichtiger Standort für Industrie, Wissenschaft und Hochschulbildung. Gegründet wurde die Stadt Mitte des 17. Jahrhunderts als Festung zur Verteidigung der Südgrenzen des russischen Zarenreiches vor Übergriffen der Tataren. In den Jahren 1921 bis 1934 war Charkow die erste Hauptstadt der Sowjetukraine. In den 1930er Jahren entwickelte sich Charkow zum wichtigsten Zentrum experimenteller Wissenschaften in der UdSSR. Hier wurde erstmals in der Sowjetunion einer der ersten Atomreaktoren mit spaltbarem Material zur Energiegewinnung in Betrieb genommen. Im Frühjahr 2014 fanden auch in Charkow Massenproteste gegen den gewaltsamen Staatsstreich in Kiew statt. Die Stadt ist bis heute bekannt für prorussische Ansichten vieler ihrer Bewohner.
Am Montag dieser Woche dagegen warnte der Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates (SNBO) Alexei Danilow vor zu viel Panik wegen einer angeblich bevorstehenden russischen Invasion. Über die russischen Truppen, die sich angeblich an der Grenze zur Ukraine sammeln, sagte Danilow dem britischen Sender BBC: "Dies ist ihr (Russlands) Territorium, sie haben das Recht, sich dort links und rechts zu bewegen. … Ist es unangenehm für uns? Ja, es ist unangenehm, aber es ist keine Neuigkeit für uns. Wenn das für jemanden im Westen eine Neuigkeit ist, dann tut es mir leid", fügte er hinzu.
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