Rutschiges Terrain: EU-Vize zu Post-Brexit-Verhandlungen eingetroffen

Mit dem Nordirland-Protokoll steht derzeit das Austrittsabkommen zur Debatte, auch um den Frieden in Irland geht es dabei. Die britische Außenministerin Liz Truss steht nach Medienberichten unter starkem Druck, noch in dieser Woche Artikel 16 auszulösen.

Am Donnerstag empfängt die britische Außenministerin Liz Truss den Vizepräsidenten der Europäischen Kommission Maroš Šefčovič zur jüngsten Verhandlungsrunde über das Nordirland-Protokoll. Die britische Außenministerin, die erst seit dem Rücktritt des ehemaligen Brexit-Ministers David Frost im Dezember für die Beziehung Großbritanniens zur EU zuständig ist, hat bereits vor den Gesprächen über die konkrete Umsetzung von Brexit-Sonderregeln für Nordirland verlautbart, dass es die EU sei, von der nun Pragmatismus zu fordern sei.

Vor dem Treffen hieß es im britischen Daily Express unter Berufung auf den DUP-Abgeordneten Ian Paisley Jr., dass Truss unter großem Druck stehe und von ihr erwartet wird, noch während dieses Treffens den Artikel 16 auszulösen.

Bereits vor dem Treffen mit dem EU-Kommissionsvize hatte Truss entsprechend verlautbaren lassen, dass die EU eine "klare Verantwortung" trage, "bei der Lösung der unzähligen Probleme zu helfen, die durch das (Nordirland-)Protokoll verursacht wurden". Zudem müsse das Karfreitagsabkommen geschützt werden, das den Frieden in der früheren Bürgerkriegsregion sicherstellt. Die Ministerin kündigte "praktische, vernünftige Lösungen" an, die auf den gemeinsamen Werten von Freiheit und Demokratie beruhten.

Mit dem sogenannten Nordirland-Protokoll als rechtsverbindlichem Teil des Brexit-Vertrags gibt es eine beiderseits getroffene Vereinbarung zum Status der britischen Provinz. Um politisch umstrittene Grenzkontrollen zwischen der Republik Irland und Nordirland zu vermeiden, hatten sich Großbritannien und die EU darauf geeinigt, dass dieser Teil des Vereinigten Königreichs, der eine Landgrenze mit dem EU-Mitglied Irland teilt, effektiv in der EU-Zollunion für Waren verbleibt und stattdessen Kontrollen für Waren zwischen dem britischen Festland und Nordirland stattfinden.

Damit wird eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland vermieden, die von den Bürgern unerwünscht ist und durch die neue Spannungen im früheren Bürgerkriegsgebiet zu erwarten wären. Allerdings gab es Unstimmigkeiten darüber, wie sich dies in der Praxis gestaltet – insbesondere für Waren, die in Nordirland verbleiben sollen –, sowie über die Rolle des Europäischen Gerichtshofs als Schiedsgericht. Nach Artikel 16 kann jede Vertragsseite einseitig beschließen, Teile des Protokolls, das den Handel mit Nordirland regelt, nicht mehr umzusetzen, wenn es zu erheblichen praktischen Problemen oder Handelsumlenkungen kommt. Truss hatte bereits vor einigen Tagen angekündigt, dass sie bereit ist, Artikel 16 auszulösen, und verwies auf Probleme wie den bürokratischen Aufwand beim Versand von Paketen zwischen Nordirland und Großbritannien und Probleme bei der Beschaffung koscherer Lebensmittel.

Auch wegen Einschränkungen im innerbritischen Handel will die britische Regierung das Abkommen komplett neu verhandeln. Laut Brüssel sind jedoch Lösungen im Rahmen der bestehenden Vereinbarung möglich. Die EU unterbreitete im September detaillierte Vorschläge, um die Auswirkungen der neuen Vereinbarungen zu mildern, die den Handel zwischen Nordirland und Großbritannien gestört hatten.

Šefčovič warnte in der vergangenen Woche, dass "die Grundlage des gesamten zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU ausgehandelten Abkommens" gefährdet sei, wenn Truss diesen drastischen Schritt gehe. "Das ist ein sehr störendes Element in den Diskussionen. Man versucht, gemeinsam etwas zu erreichen, und – bumm – schon droht wieder Artikel 16", sagte er dem Spiegel. "Das berührt die Grundlagen unserer Beziehungen. Das Nordirland-Protokoll war der komplizierteste Teil der Brexit-Verhandlungen, und es ist die Grundlage des gesamten Abkommens. Ohne das Protokoll wird das ganze System zusammenbrechen. Das müssen wir um jeden Preis verhindern."

Truss und Šefčovič treffen sich im Chevening House, dem Landsitz der Außenministerin in der südostenglischen Grafschaft Kent. Zum Auftakt ist am Donnerstag ein Abendessen geplant. Insgesamt sind bis Freitag drei Hauptrunden angesetzt. Das Vereinigte Königreich hatte die Europäische Union zum 31. Januar 2020 verlassen, bis zum Jahreswechsel 2020/2021 galt noch eine Übergangsphase mit weitgehend den gleichen Regeln wie zuvor, dann vollzog sich vor gut einem Jahr der finale Bruch der Insel mit dem Rest des Kontinents. Zu Beginn des laufenden Jahres traten neue Importkontrollen für Produkte aus der EU in Kraft.

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