Eine Analyse von Dagmar Henn
Erdgaslieferungen nach Westeuropa hatten immer einen entschiedenen Gegner: Die Vereinigten Staaten von Amerika. Das war bereits so bei der Fertigstellung der ersten Gaspipeline aus Russland, der Sojus- und Druschba-Trasse, deren Bau im Jahr 1971 begann. Da die US-Navy die Schifffahrtsrouten kontrollierte und Erdöl überwiegend per Tanker geliefert wurde, hatten die USA die Möglichkeit, Lieferungen zu blockieren oder eine Blockade anzudrohen. Der Bau der ersten Pipeline von Russland nach Westeuropa, die Einführung der Kernenergie und die Anfänge der Nutzung von Wind- und Solaranlagen wurden ursprünglich vom Wunsch vieler Länder vorangetrieben, dieser Kontrolle zu entkommen.
Die Zeitangaben über die Lebensdauer einer Gaspipeline differieren – 30 bis 50 Jahre dürften die Nutzungsspanne sein. Die ältesten Pipelines, die über die Ukraine führende Trasse, nähern sich somit dem Ende ihrer Gebrauchsdauer. Gaspipelines stehen beständig unter Druck. Bei Nord Stream 1 liegt er zwischen 220 und 110 bar, wobei der durchschnittliche Luftdruck 1 bar beträgt. Unter diesem Gesichtspunkt könnten am Meeresboden verlegten Pipelines sogar einen Vorteil bei der Lebensdauer haben, da die Differenz zwischen Außen- und Innendruck geringer ist.
Mehr als 550 Kilometer der Druschba-Trasse in der heutigen Ukraine wurden von der DDR im Tausch gegen Gaslieferungen finanziert und gebaut. Die Bundesrepublik lieferte Röhren ebenfalls im Tausch gegen Gas. Der letzte Abschnitt des Ausbaus von Sojus/Druschba wurde im Jahr 1993 fertiggestellt. Darauf folgte die Jamal-Pipeline, die durch Weißrussland und Polen führt und im Jahr 1999 fertiggestellt wurde. Danach kam Nord Stream 1, das im Jahr 2012 fertiggestellt wurde. Die Trasse war bereits Mitte der 1990er-Jahre in der Diskussion, die Beschlüsse zu ihrer Errichtung fielen aber erst, als sich im Jahr 2005 erwies, dass die durch die Ukraine verlaufende Trasse aufgrund der dortigen Politik nicht mehr verlässlich war. Als Russland, nachdem es zu keiner Einigung über einen Vertrag gekommen war, die Belieferung der Ukraine einstellte, wurde dort schlicht das Erdgas, das für Westeuropa bestimmt war, abgezapft, also gestohlen.
Derselbe Hintergrund führte zu den Planungen für Nord Stream 2, wobei zu bedenken ist, dass die Sojus-/Druschba-Strecke zum Teil eben bereits 40 Jahre in Betrieb und in der Ukraine sicher nicht optimal gewartet ist und technisch ohnehin ersetzt werden muss.
Nachdem sich abzeichnete, dass Nord Stream 2 zum Fokus politischer Auseinandersetzungen wird, wurde zusätzlich noch die South Stream Trasse gebaut, die über die Türkei nach Südosteuropa führt.
Rund um Erdgas- und Ölpipelines spielen immer folgende Fragen eine Rolle: Die Energiesicherheit und die Souveränität des Empfängerlandes, die Transitgebühren für Länder, durch die die Leitungen führen sowie die Kontrollmöglichkeiten, die sich daraus ergeben. Bei der Verlagerung der Gaslieferungen von Sojus/Druschba hin zu Nord Stream 2 geht es nicht nur um Durchleitungsgebühren, die an die Ukraine oder im Falle der Jamal-Pipeline an Polen gehen. Frankreichs ablehnende Haltung gegenüber Nord Stream 2 könnte damit zu tun haben, dass der Hauptstrang der Erdgaslieferungen unter deutscher Kontrolle steht, was die Weiterleitungen in andere Länder ebenfalls betrifft. Andererseits war genau dieser Punkt auch immer Teil des Kalküls der Bundesregierung.
Der Bau von Nord Stream 2 wurde 2018 begonnen und sollte ursprünglich 2019 fertiggestellt sein. Im April 2019, also nach Baubeginn, führte die EU mit der Richtlinie 2019/692 auch für Gasfernleitungen mit Drittstaaten die Entflechtungsvorgabe ein, was eine Zertifizierung erforderlich machte. Entflechtung heißt, dass die Versorgung und der Betrieb des Netzes nicht in einer Hand liegen dürfen. Diese Vorgabe ist zum einen Teil der neoliberalen und im Grunde verbraucherfeindlichen Politik, natürliche Monopole künstlich zu zerbrechen, um zusätzliche Gewinnmöglichkeiten zu schaffen (ebenfalls beim Strom). Zum anderen war diese Erweiterung auf externe Anbieter politisch motiviert und wurde von Gegnern der Nord Stream 2-Pipeline vorangetrieben. Die aktuellen Verzögerungen sind ein Resultat dieses Beschlusses.
Im Dezember 2019 wurde der Bau vor Beendigung der letzten 150 km unterbrochen, da die Schweizer Verlegeschiffe in Folge von US-Sanktionen abgezogen wurden. Die USA hatten angedroht, jeder Firma, die sich am Bau beteilige, das US-Geschäft künftig zu untersagen.
Den Schweizern war dies zu verlustreich. Völkerrechtlich waren die Sanktionen illegal.
Es dauerte ein ganzes Jahr und erforderte einige Umbauarbeiten, bis die Verlegung des letzten Teilstücks durch die russischen Schiffe Akademik Cherskiy und Fortuna wieder aufgenommen wurde. Während dieser Verlegungsarbeiten kam es zu Störmanövern der polnischen Marine, aber im Juni dieses Jahres war der Bau des ersten und am 10. September der des zweiten Röhrenstranges abgeschlossen.
Die Entflechtungsrichtlinie der EU hat zwei Folgen für Nord Stream 2. Die erste besteht darin, dass Gazprom nur noch die Hälfte der Pipeline befüllen darf, weil der Konzern gleichzeitig der Betreiber der Pipeline ist. Die Tatsache, dass der Lieferant Gazprom zusätzlich zum Betreiber wurde, war aber wiederum das Resultat einer Klage Polens im Jahr 2016. Zuvor waren an Nord Stream 2 die Konzerne Eon, Wintershall, Shell, OMV und Engie beteiligt, zwei deutsche, ein niederländisches, ein österreichisches und ein französisches Unternehmen, die den Bau auch nach ihrem Rückzug aus der Betreiberfirma weiter finanzierten. Die Voraussetzungen, um die Beschickung von Nord Stream 2 durch Gazprom zu reduzieren, wurden also erst kurz vor der Inbetriebnahme geschaffen.
Die zweite Konsequenz der Entflechtungsrichtlinie ist die Notwendigkeit einer Zertifizierung. Diese muss durch die Bundesnetzagentur erfolgen, wurde aber im Falle Nord Stream 2 im November ausgesetzt, da die Betreiberfirma in Deutschland ansässig sein muss, tatsächlich aber in der Schweiz angemeldet ist.
Nun wird also eine Tochtergesellschaft in Deutschland gegründet. Dies soll Anfang Januar abgeschlossen sein. Nach zwei weiteren Monaten Bearbeitung durch die Netzagentur geht das Verfahren weiter an die EU-Kommission in Brüssel, die ihrerseits vier Monate Zeit für eine Stellungnahme hat. Danach hat die Bundesnetzagentur weitere zwei Monate Zeit für die Zertifizierung. Damit wären wir im August des kommenden Jahres angelangt, ehe der Betrieb aufgenommen werden kann. Zur Lösung etwaiger Probleme in diesem Winter kann Nord Stream 2 also nichts mehr beitragen.
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