Seit der Unabhängigkeit kamen in der Ukraine inzwischen Dutzende Politiker, Journalisten und sonstige Personen des öffentlichen Lebens um. Offizielle Todesursache waren neben Morden auch Selbstmord, Krankheiten oder Unfälle. Oft waren deren Umstände mysteriös oder zumindest seltsam. Zu erinnern ist zum Beispiel an mindestens sieben Selbstmorde ehemaliger Politiker der nach dem Maidan zerschlagenen Partei der Regionen.
Diese Tradition fragwürdiger Todesfälle setzt sich offenbar auch unter der Präsidentschaft Wladimir Selenskijs fort. Am 8. Oktober wurde der oppositionelle Rada-Abgeordnete Anton Poljakow in einem Taxi tot aufgefunden. Er war 33 Jahre alt und war in den letzten Monaten durch seine öffentliche Kritik an Präsident Selenskij, seiner Partei und dem politischen Kurs des Landes aufgefallen.
Am Freitag bezeichnete die Rada-Abgeordnete Anna Skorochod Poljakows Tod vor dem Parlament als Mord. "Er ist ein Held unserer Zeit, der brutal ermordet wurde, und wir als Kollegen müssen uns mit diesem Fall befassen", sagte sie. Sie schlug vor, eine parlamentarische Untersuchungskommission zur Aufklärung des Falls zu gründen.
Skorochod war Poljakows Lebensgefährtin und nach eigenen Angaben mit ihm verlobt. Aus ihrer Sicht hält die offizielle Version seines Todes keiner Kritik stand. Laut dem Innenministerium war die Todesursache eine koronare Herzkrankheit. Poljakow habe die Medikamte Methadon und Dimedrol zusammen eingenommen, die in Kombination wie Drogen wirken. Der erste Stellvertretende Innenminister Jewgeni Enin hatte im ukrainischen Fernsehen gesagt, dass für eine Ermordung keine Beweise gefunden worden seien. Die Mischung der Medikamente sei als "Verstärker" der Wirkung bekannt.
Diesen Erklärungen widersprach Skorochod bereits am Sonntag in einer Live-Sendung. Das Interview mit ihr strahlte der Fernsehkanal Ukraine 24 des Oligarchen Rinat Achmetow aus. "Anders als nun behautet, war Anton kein Drogenabhängiger!" Sie fügte vielsagend hinzu, dass sie auch keine sei, außerdem plane sie in der nächsten Zukunft auch nicht, sich das Leben zu nehmen. Skorochod wies darauf hin, dass an Poljakows Hals eine Furche zu sehen war. "Die Behörden schweigen zu so vielen Details. So gibt es z.B. keine Rekonstruktion, was er in den letzten zwei Tagen seines Lebens gemacht hat", beschwerte sie sich.
Bekannt ist jedoch, dass der Abgeordnete mit einem von Skorochods Helfern und einem weiteren Gesprächspartner in einem Restaurant gesessen hatte, bevor er ins Taxi stieg. Überwachungskameras zeichneten auf, dass er das Restaurant allein und ohne offensichtliche Anzeichen von Unwohlsein verlassen hatte.
Poljakow ist seit 2019 Mitglied der Werchowna Rada und war von der Präsidentenpartei "Diener des Volkes" für die nordukrainische Region Tschernigow nominiert worden. Der Politiker wurde später wegen seiner kritischen Positionen aus der Partei ausgeschlossen und schloss sich der Abgeordnentengruppe "Für die Zukunft" an. Nur wenige Tage vor seinem Tod erzählte er im ukrainischen Fernsehen von Korruption im Parlament – er selbst sei Zeuge geworden, wie Abgeordnete auf der Toilette eines Kongresszentrums Bargeld für Abstimmungen in Umschlägen bekommen hätten.
Aber nicht nur sein Antikorruptionskampf könnte den Machthabern im Land ein Dorn im Auge gewesen sein. Nach Einschätzung einiger Experten überschritt Poljakow mit seinem Medienprojekt "Verlorenes Erbe" zur jüngsten Geschichte des Landes eine rote Linie. Das Projekt sei gegen derzeit in der Ukraine kultivierte nationalistische Mythen, eine Ideologie des Hasses und Kriegspropaganda gerichtet, schrieb die ukrainische Publizistin Elena Markosjan.
Skorochod ist sich außerdem sicher, dass nicht nur der Tod Poljakows als "nicht zufällig" bezeichnet werden kann. So glaubt sie beispielsweise nicht an die offiziellen Versionen zum Tod des Abgeordneten Waleri Dawidenko im Mai 2020 und des Bürgermeisters von Kriwoj Rog, Konstantin Pawlow, im August 2021.
"Es gibt definitiv einen Zusammenhang (zwischen den Todesfällen von Politikern – Anm. d. Red.). Und wir sollten lieber danach suchen, in wessen Interesse sie liegten", bemerkte sie.
Der Politiker, Unternehmer und Dollar-Millionär Dawidenko war mit einem Kopfschuss auf der Toilette eines Bürogebäudes aufgefunden worden. Auf dem Boden lag eine Pistole. Behörden sprachen von Selbstmord als möglicher Todesursache. Seinen Kollegen zufolge war er jedoch lebensfroh und zeigte keine Anzeichen für Lebensmüdigkeit. Noch am Vortag habe er von vielen seiner Pläne erzählt.
Ein ähnlicher Vorfall hatte sich im August in Kriwoj Rog ereignet, der russischsprachigen Geburtsstadt Selenskijs. Der Oberbürgermeister der Stadt, ein Politiker der regierungskritischen Partei "Oppositionsplattform – Für das Leben", war blutüberströmt an der Eingangstür seines Privathauses gefunden worden – RT DE berichtete.
Laut vielen seiner Parteifreunde, Beobachtern und Journalisten gibt es in den Schilderungen der Polizei so viele Unstimmigkeiten, dass man inzwischen von einer Tötung durch die Geheimdienste ausgeht. Da neben Pawlow das Jagdgewehr "Saiga" gelegen hatte, waren laut Ermittlungen neben Mord auch Selbstmord und unvorsichtiger Umgang mit der Waffe mögliche Todesursachen. Unabhängige Expertisen zeigten jedoch, dass auf Poljakow aus einer Entfernung von mindestens 60 Zentimetern geschossen worden war, berichtete im September ein lokaler Fernsehsender. Um sich zu erschießen, müsse er aber eine Hand von 117 Zentimetern haben, schlussfolgerte der Moderator, der das entsprechende Szenario an sich selbst getestet hatte. Außerdem habe es zwei Schüsse gegeben.
Am 18. Oktober starb auch der jüngere Bruder des Oberbürgermeisters, Andrei. Die Todesursache sei laut Ermittlung eine Alkoholvergiftung gewesen. Über Medien wurden Gerüchte gestreut, dass Andrei Pawlow Alkoholiker gewesen sei – eine Behauptung, die keiner seiner Bekannten bestätigen konnte. Laut einem Bericht desselben Senders war der Bruder ein wichtiger Zeuge in der Ermittlung zum Tod seines Bruders gewesen.
"Wir fallen nicht in die 1990er-Jahre zurück. Wir werden einfach zu Lateinamerika in dessen schlimmsten Jahren. Denn wir haben inzwischen eine Symbiose aus Macht und Banditentum", resümiert der Journalist zum Ende seiner Reportage aus Kriwoj Rog.
Für großes Aufsehen sorgte in der Ukraine auch der Angriff auf das Auto des Vertrauten des ukrainischen Präsidenten Sergei Schefir. Sein Wagen wurde am 22. September aus einem Maschinengewehr beschossen. An diesem Tag weilte Selenskij in New York, wo er an der UN-Generalversammlung teilnahm. Da der Täter nur auf den unteren Bereich des Fahrersitzes schoss, wurde der Fahrer nur verletzt, während Schefir selbst keine Verletzungen erlitt. Er war ein Freund und Kollege Selenskijs und hatte für ihn Sketche und Szenen geschrieben, als der jetzige Präsident noch Schauspieler gewesen war. Jetzt ist er sein Berater und Assistent. Auch dieser Fall wirft laut ukrainischen Medien viele Fragen auf.
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