Die Uneinigkeit in der Europäischen Union zieht sich beim derzeit stattfindenden EU-Gipfel durch alle Themen. Das erste Thema, welches die Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel am Donnerstag erörterten, waren die steigenden Energiepreise auf dem Kontinent, die zuletzt die Kosten für Haushalte in die Höhe trieben, und die von der Kommission letzte Woche vorgestellte "Toolbox" mit kurz- und langfristigen Maßnahmen.
Doch bei der Frage, ob und wenn ja wie langfristig gegen hohe Energiepreise vorgegangen werden soll, fand der Gipfel zu keiner gemeinsamen Linie.
Zusammen mit anderen Ländern plädierte Spanien für einen gemeinsamen Gaseinkauf und drängte den Rat zu entschlossenerem Handeln.
"Wir wollen dem Rat ein Gefühl der Dringlichkeit vermitteln", sagte der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez vor der Presse und fügte hinzu, man müsse die Maßnahmen beschleunigen, da "die Frage der Energiepreise die Wettbewerbsfähigkeit der EU untergraben kann.”
Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki warnte ebenfalls davor, dass die Gaspreise "das Wirtschaftswachstum in Europa erheblich beeinträchtigen könnten." Einige Länder, darunter Deutschland und die Niederlande, betonten jedoch die Notwendigkeit, überlegt zu handeln und keine überstürzten Änderungen an der Funktionsweise des Energiemarktes vorzunehmen. Sie verwiesen dabei auf die Unsicherheit des Marktes. "Wir müssen eine Lösung finden, ohne die Märkte abzuschalten", so die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Presse.
Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán machte die Energiepolitik für die derzeit hohen Energiepreise verantwortlich und übte scharfe Kritik an der vorgeschlagenen Ausweitung des EU-Emissionshandelssystems (ETS) auf Wohnraum und Autos, die die Preise für Verbraucher und Haushalte in die Höhe treiben. "Dies wird die Mittelschicht zerstören, die das Rückgrat der Demokratie ist", so Orban gegenüber der Presse. "Diejenigen, die die Preise für Strom und Gas in die Höhe treiben, setzen die europäische Demokratie aufs Spiel."
Anfang dieser Woche hatte Warschau einen Vorschlag unterbreitet, der eine mögliche Verschiebung von Teilen des EU-Klimapakets vorsah.
Dänemark, Belgien und Estland forderten die G20-Länder auf, im Vorfeld der Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP26) im November mehr für den Klimaschutz zu tun und dem Beispiel der EU in Sachen Klimaschutzpolitik zu folgen. "Schließen Sie sich uns an", sagte der belgische Premierminister Alexander de Croo. "Langfristig gibt es nur eine Lösung für die hohen Energiepreise: erneuerbare Energien." Auch Bundeskanzlerin Merkel bekräftigte die Forderungen jener Staats- und Regierungschefs, die sich für eine Verdopplung der erneuerbaren Energien einsetzen und diese als beste langfristige Lösung für die Krisen ansehen.
Weitere Auseinandersetzungen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten gibt es bei der Frage, welche Energien als nachhaltig gelten können. Polen und die Tschechische Republik befürworten Gas als Übergangsbrennstoff. Während Frankreich eine Gruppe von 10 Ländern anführt, die darauf drängen, die Kernenergie in die EU-Leitlinien für grüne Investitionen – die sogenannte "EU-Taxonomie" – aufzunehmen.
Nachdem die Staats- und Regierungschefs stundenlang mit diesem Thema verbrachten, verständigten sie sich darauf, die Gründen für den jüngsten Preisanstieg genauer zu analysieren. Zunächst sollen die EU-Länder national eingreifen, um Verbraucher und Unternehmen kurzfristig vor hohen Kosten zu schützen. Die Diskussionen sollen bei einem Sondertreffen der Energieminister am nächsten Dienstag fortgeführt werden. Diskutiert werden soll unter anderem der gemeinsame Einkauf von Gas.
Im Streit mit Polen hat der EU-Gipfel in Brüssel keine Lösung gebracht. Die Debatte der 27 Staats- und Regierungschefs sei ein Schritt, der auf dem Weg zu einer Lösung helfen sollte, hieß es in der Nacht zum Donnerstag aus EU-Kreisen. Dabei brauche es den politischen Dialog. Die Beratungen seien in einer ruhigen Atmosphäre geführt worden und eine Gelegenheit gewesen, die verschiedenen Sichtweisen besser zu verstehen. EU-Ratspräsident Charles Michel habe den Staats- und Regierungschefs für ihre konstruktive Herangehensweise gedankt. Merkel versuchte in dem Streit zu vermitteln. "Rechtsstaatlichkeit ist ein Kern des Bestands der Europäischen Union", sagte sie zu Beginn des Treffens. "Auf der anderen Seite müssen wir Wege und Möglichkeiten finden, hier wieder zusammenzukommen." Doch der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki bekräftigte seine Haltung, dass sein Land sich nicht erpressen lasse.
Hintergrund des aktuellen Streits ist ein Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, das von seinen Kritikern als illegitim angesehen wird. Dem Gerichtsurteil zufolge sind Teile des EU-Rechts nicht mit Polens Verfassung vereinbar. Diese Entscheidung wird von der EU-Kommission und einigen anderen Staaten als höchst problematisch angesehen, weil sie der polnischen Regierung einen Vorwand geben könnte, ihr unliebsame Urteile des Europäischen Gerichtshofes zu ignorieren. Die Corona-Wiederaufbauhilfen aus Brüssel sollen eingefroren bleiben, solange das Land sich nicht an geltendes EU-Recht halte.
Am Freitag, dem zweiten Tag des Gipfels, geht es unter anderem um das Thema Migration, auch mit Blick auf Weißrussland. Merkel warf dem Präsidenten des Landes, Alexander Lukaschenko, bereits am Donnerstag staatlichen Menschenhandel vor. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach von einem "hybriden Angriff".
Lukaschenko wird vorgeworfen, in organisierter Form Migranten aus Krisenregionen an die EU-Außengrenze zu bringen. Er hatte Ende Mai 2021 angekündigt, dass Minsk Migranten nicht mehr an der Weiterreise in die EU hindern werde – als Reaktion auf verschärfte westliche Sanktionen gegen sein Land. Seitdem mehren sich die Meldungen über versuchte illegale Grenzübertritte an den EU-Außengrenzen zu Weißrussland sowie an der deutsch-polnischen Grenze.
Für Merkel ist es in 16 Jahren Kanzlerschaft offiziellen Angaben zufolge der 107. EU-Gipfel. Sollte wie geplant bis Mitte Dezember eine neue Bundesregierung stehen, reist zum nächsten EU-Gipfel Olaf Scholz (SPD) als Bundeskanzler.
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