Frankreich vornweg: Zehn EU-Länder fordern Einstufung der Atomkraft als grüne Energie

Eine Gruppe von zehn EU-Ländern, angeführt von Frankreich, hat die Europäische Kommission aufgefordert, die Kernenergie als CO₂-arme Energiequelle anzuerkennen. Die Technologie soll so zu dem über Jahrzehnte anvisierten Übergang der EU zur Klimaneutralität beitragen.

In Anbetracht der anhaltenden Energiekrise in Europa plädieren zehn EU-Staaten in einem Schreiben nach Brüssel für die Kernenergie als "wichtige erschwingliche, stabile und unabhängige Energiequelle", die die Verbraucher in der EU davor schützen könnte, "den Preisschwankungen ausgesetzt zu sein". Das von Frankreich initiierte Dokument wurde mit der Unterschrift von neun weiteren EU-Ländern an die EU-Kommission gesandt, von denen die meisten die Kernenergie bereits zu ihrem nationalen Energiemix zählen: Bulgarien, Finnland, Kroatien, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn.

Kernkraftwerke erzeugen über 26 Prozent des in der Europäischen Union produzierten Stroms. "Der Anstieg der Energiepreise hat auch gezeigt, wie wichtig es ist, unsere Energieabhängigkeit von Drittländern so schnell wie möglich zu verringern", heißt es in dem Schreiben. Über 90 Prozent des Erdgases in der EU werden aus dem Ausland importiert, wobei Russland der Hauptproduzent ist. Für die Unterzeichner des Briefes ist dies offenbar einer der Hauptfaktoren für den Anstieg der Energiepreise. Sie schreiben:

"Versorgungsspannungen werden immer häufiger auftreten, und wir haben keine andere Wahl, als unsere Versorgung zu diversifizieren. Wir sollten darauf achten, dass unsere Abhängigkeit von Energieimporten aus dem außereuropäischen Ausland nicht zunimmt."

Die Unterzeichner fordern die Kommission auf, die Kernenergie in die grüne Taxonomie der EU aufzunehmen. Dabei handelt es sich um einen technischen Leitfaden, der Regierungen und Investoren dabei hilft, festzustellen, welche Projekte das Pariser Abkommen einhalten und welche gegen dessen Klimaziele verstoßen. Aktivitäten, die unter die Taxonomie fallen, müssen einen "wesentlichen Beitrag" zu mindestens einem Umweltziel der EU-Klimapolitik leisten und gleichzeitig einen erheblichen Schaden für eines der anderen Ziele vermeiden. Außerdem müssen Projekte, die unter die Taxonomie fallen, ein Mindestmaß an sozialen Garantien erfüllen.

Frankreich gegen Deutschland

Die Kommission hat bereits einen umfangreichen Katalog von Sektoren wie Solarenergie, Geothermie, Wasserstoff, Windkraft, Wasserkraft und Bioenergie in den Leitfaden aufgenommen. Als Brüssel die Taxonomie im April vorstellte, fehlte jedoch ein Sektor: die Kernenergie. Trotz des selbst gesetzten Zieles, den Klimawandel zu bekämpfen, sind die Mitgliedsstaaten immer noch nicht in der Lage, einen Konsens darüber zu erzielen, ob Kernenergie eine grüne oder schmutzige Energiequelle darstellt. Die Kommission hat die wichtige Entscheidung vertagt, damit die Länder die Debatte abschließen können.

Auf der einen Seite führt Deutschland, das plant, alle seine Reaktoren bis 2022 abzuschalten, zusammen mit Österreich, Dänemark, Luxemburg und Spanien die Anti-Atomkraftbewegung an. "Wir sind besorgt, dass die Aufnahme der Kernenergie in die Taxonomie deren Integrität, Glaubwürdigkeit und damit ihren Nutzen dauerhaft beschädigen würde", schrieben die Länder unter Führung von Deutschland im Juli.

Auf der anderen Seite kämpft Frankreich, das über 70 Prozent seines Stroms aus Kernkraftwerken bezieht, dafür, dass die Kernenergie im Rahmen der Taxonomie als nachhaltig eingestuft wird. Wie aus dem neuen Schreiben hervorgeht, hat Paris die Unterstützung mehrerer östlicher Staaten, die bereits Millionen für Atomprojekte bereitgestellt haben. "Während erneuerbare Energiequellen eine Schlüsselrolle für unsere Energiewende spielen, können sie nicht genug CO₂-armen Strom produzieren, um unseren Bedarf in ausreichendem und konstantem Maße zu decken", heißt es in dem Schreiben, in dem die Kernenergie als ein "sicherer und innovativer" Sektor beschrieben wird, der das Potenzial hat, "in naher Zukunft" eine Million hochqualifizierter Arbeitsplätze zu erhalten.

Der französische Präsident Emmanuel Macron verfolgt bei seiner Energiepolitik eine, wie er es nennt, Sowohl-als-auch-Strategie. Er will neue, kleine Atomkraftwerke (SMR) bauen, aber nebenher sollen auch erneuerbare Energien ausgebaut werden. Die Mini-Reaktoren sind allerdings noch nicht produktionsreif. Ein einziges Modell läuft derzeit in Russland. Zudem zeigt die französische Industrie wenig Interesse an den kleinen Reaktoren, da sie relativ wenig Strom produzieren und herkömmliche Atomkraftwerke nicht ersetzen können.

Showdown bei Verhandlungen zu "Fit for 55"?

Ein Bericht der Forschungsabteilung der Kommission, der Anfang des Jahres veröffentlicht wurde, deutet darauf hin, dass sich Brüssel letztendlich auf die Seite der Atomkraftbefürworter schlagen könnte. In dem Papier heißt es, dass die Treibhausgasemissionen von Kernkraftwerken mit denen von Wasser- und Windkraftanlagen "vergleichbar" sind – eine Einschätzung, die von der Internationalen Energieagentur (IEA) und dem Energieministerium der Vereinigten Staaten geteilt wird.

Es gibt keine Anzeichen für eine baldige Lösung der Debatte. Nach Angaben der Kommission wird eine Entscheidung über die Kernenergie vor Ende des Jahres erwartet, auch wenn sie sich angesichts der tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten bis ins nächste Jahr hinziehen könnte. Im Januar wird Frankreich die rotierende Ratspräsidentschaft übernehmen, was Paris eine privilegierte Position verschafft, um die Brüsseler Agenda zu beeinflussen.

In der Zwischenzeit haben die EU-Institutionen die Verhandlungen über "Fit for 55" aufgenommen, ein umfangreiches Gesetzespaket, mit dem die Emissionen in der EU bis zum Ende des Jahrzehnts um mindestens 55 Prozent gesenkt werden sollen. "Fit for 55" gilt als einer der radikalsten und weitreichendsten Vorschläge in der Geschichte der EU.

Gemeinsam könnten die zehn Unterzeichner des Briefes eine Sperrminorität im Rat bilden, indem sie verhindern, dass ihre Mitstreiter die erforderliche Schwelle von 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU erreichen.

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