Die britische Polizei rüstet das bereits als "invasiv" geltende Gesichtserkennungsnetz weiter auf. Forscher warnen jedoch, dass die Sicherheit nicht wie versprochen profitiert. Für Bürgerrechtler wird das Vertrauen der Gesellschaft aufs Spiel gesetzt.
Die Stellvertretende Bürgermeisterin Londons, Sophie Linden, zuständig für Polizeiarbeit und Kriminalität, hat vor wenigen Wochen einen Antrag gebilligt, der es der Londoner Stadtpolizei (MET) erlaubt, in den kommenden Monaten eine neue und weitergehende Überwachungstechnologie einzusetzen. Dabei handelt es sich um ein sogenanntes "Retrospektive-Gesichtserkennung-System" (Retrospective Facial Recognition), kurz RFR.
Wie es in der Mitteilung zum geplanten RFR-System des Bürgermeisteramtes für Polizeiarbeit und Kriminalität (MOPAC) heißt, kann die Gesichtserkennung neben der Echtzeit-Erfassung (Live Facial Recognition, LFR) auch durch bereits gespeichertes Bildmaterial erfolgen, beispielsweise durch das der Polizeilichen Nationalen Datenbank (PND) für Gesichtserkennung, aus Videoüberwachungsanlagen, sozialen Medien oder auch von Bürgern eingereichte Fotos.
Im Rahmen eines Vierjahresvertrags wird das japanische Technologieunternehmen NEC Corporation die RFR-Systeme liefern, die der Polizei "bisher nicht verfügbare Möglichkeiten zur Unterstützung der Erkennung und des Abgleichs von Gesichtern" bieten und sie in die Lage versetzen werden, die Ermittlungsmöglichkeiten, die sich aus der raschen Zunahme von "Bilddatenquellen" ergeben, "effektiv zu nutzen".
Auch geht daraus der Kostenpunkt für die Technologie hervor – mit umgerechnet über 3,5 Millionen Euro (3.084.000 GBP) eine saftige Investition in einem Land, in dem sich die Armut in einigen Bevölkerungsteilen sehr deutlich zeigt. Dies sei der Preis für verminderte Kriminalität und erhöhte Sicherheit, so die Befürworter.
Im Namen der "Sicherheit"
Ein nicht genannter Sprecher des Büros des Bürgermeisters behauptete, dass die Technologie die Zeit zur Identifizierung von Verdächtigen verkürzen und zur Bekämpfung der Kriminalität in der Hauptstadt beitragen würde. Er räumte jedoch ein, dass die Polizei bei der Nutzung dieser Technologie "angemessen und transparent" sein müsse, um "das Vertrauen aller Londoner zu erhalten". Letzte Woche hat der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan die "Emerging Technology Charter" veröffentlicht, die eine Reihe von Leitlinien für die Nutzung neuer datengestützter Technologien in der Stadt enthält. Obwohl Strafverfolgungsbehörden davon ausgenommen sind, wird in dem Dokument darauf hingewiesen, dass Technologien wie Gesichtserkennungssysteme "nicht eingesetzt werden sollten", wenn sie nicht die "sehr hohe Messlatte" erfüllen, die von der ICO für die Verwendung biometrischer Daten festgelegt wurde.
Doch während das System bis zum Jahresende in Betrieb genommen werden soll, erklärte die Datenschutzbehörde des Landes – das Information Commissioner's Office (ICO) – gegenüber Wired UK, dass sie keine offiziellen Leitlinien für die Verwendung von RFR-Systemen veröffentlicht habe. Die Behörde warnte, dass das "öffentliche Vertrauen" verloren ginge, wenn die Polizeikräfte, die die Technologie verwenden, nicht "entscheidende Schritte" unternehmen würden, um die Datenschutzgesetze "vor, während und nach ihrer Verwendung" einzuhalten.
Dazu gehört die Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung (Data Protection Impact Assessment, DPIA) vor der Verarbeitung personenbezogener Daten, die die MET bis zur Genehmigung des RFRs seitens der stellvertretenden Bürgermeisterin Ende August nicht vorgelegt hat – obwohl in dem Vertragsvorschlag darauf hingewiesen wurde, dass das System "einen Ansatz des eingebauten Datenschutzes" gewährleisten werde.
Laut Ella Jakubowska, einer Beraterin des Interessenverbands European Digital Rights, könne die neue RFR-Überwachungstechnologie analysieren, was die verdächtigte Person in den letzten Monaten getan habe, wo sie sich aufgehalten und wer sie begleitet habe.
Doch neben den datenschutzrechtlichen Bedenken ist offenbar auch eine höhere Sicherheit durch Gesichtserkennung – gegen die Bürgerrechtler ebenfalls protestierten und die auch das britische Parlament ablehnte – nicht wirklich gegeben. Obwohl ein Ausschuss des britischen Unterhauses im Juli 2019 vom Einsatz der LFR-Technologie abgeraten hat, wird sie weiterhin eingesetzt.
Laut Forschern der Universität Essex, die die Polizisten für ein halbes Jahr bei den Einsätzen begleiten konnten, lag die nachweisbare Erkennungsrate bei gerade einmal 19 Prozent, während also 81 Prozent der angehaltenen Personen falsch erkannt wurden.
Den Forschern zufolge hätten die Tests bei einer Klage vor Gericht wohl keinen Bestand. Während die Trefferquote mit knapp einem Fünftel eher gering ist, verstößt das System zudem wahrscheinlich gegen die Menschenrechte. Die Forscher warnten vor einer "schleichenden Überwachung", bei der die Technologie zum Aufspüren von Personen eingesetzt wird, die gar nicht von den Gerichten gesucht werden. Demnach sei der Einsatz dieser Technologie ein Verstoß gegen das Recht auf Privatsphäre, die Meinungsfreiheit und das Recht auf Protest. Bei Protesten kann die Polizei in Großbritannien unter anderem IMSI-Catcher, Social-Media-Auswertung und Gesichtserkennung einsetzen. Darüber informiert die britische NGO Privacy International in einer Kampagne.
Die RFR-Technologie wird derzeit von sechs Polizeikräften in England und Wales eingesetzt, wie es in einem Bericht der Polizeiaufsichtsbehörde Her Majesty's Inspectorate of Constabulary and Fire and Rescue Services heißt.
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