Die Kosten für Energie explodieren derzeit in der Europäischen Union (EU). Sie sind in kurzer Zeit so stark gestiegen, dass mehrere energieintensive Unternehmen ihre Produktion unterbrechen mussten, wegen der Stromkosten, aber auch wegen gestiegener Preise für fossile Energieträger.
Denn insbesondere auch Erdgas ist im Vergleich zum Vorjahr um ein Vielfaches teurer geworden. Am wichtigsten europäischen Handelsplatz für Erdgas in Amsterdam verdreifachte sich der Preis seit Jahresbeginn von rund 300 US-Dollar (256 Euro) pro 1.000 Kubikmeter auf mittlerweile über 800 US-Dollar. Die Füllstände der Gasspeicher in Westeuropa sind im Winter 2020/2021 rapide gesunken und konnten bis heute noch nicht ausreichend wieder aufgefüllt werden.
EU-Abgeordnete bezichtigen Russland der Marktmanipulation
Am Montag lag der Gaspreis in Europa auf einem Rekordhoch. Die Frage, wie es zu diesem Preisanstieg kommen konnte, beantworteten am 17. September 40 Mitglieder des EU-Parlaments auf eher unwirtschaftliche Art. In einem Brief forderten sie die EU-Kommission auf, entsprechende Ermittlungen einzuleiten, und zwar gegen den russischen Gaskonzern Gazprom.
Die EU-Abgeordneten forderten von der EU-Kommission zu prüfen, ob nicht womöglich "vorsätzliche Marktmanipulation durch Gazprom" und ein "möglicher Verstoß gegen die EU-Wettbewerbsregeln" vorliegen würden.
Sowohl die russische Regierung als auch Gazprom wiesen diese Vorwürfe umgehend zurück. In einer Stellungnahme erklärte Gazprom-Chef Aleksei Miller die gestiegenen Gaspreise mit einem kalten Winter und Frühling nach dem Jahreswechsel 2020/2021. Der höhere Energieverbrauch sowie die verzögerte Auffüllung der Gasspeicher hätten zu der jetzigen Situation geführt.
Aktuell sind allein die Gasspeicher in Deutschland – die größten in der EU – zu weniger als zwei Dritteln gefüllt. Vor einem Jahr lag der Füllstand noch bei 94 Prozent. Ende März dieses Jahres lag der Füllstand sogar bei unter 30 Prozent.
Rekordpreise an europäischen Spotmärkten
Schon am 9. September hatte sich Russlands Präsident Wladimir Putin persönlich zum Thema der steigenden Erdgaspreise auf dem europäischen Markt geäußert. Putin machte die eigene Politik der EU für den derzeitigen Rekordanstieg verantwortlich, indem sie beschlossen hatte, die Ermittlung des Gaspreises in Europa den börsenbasierten Mechanismen zu überlassen, den sogenannten Spotmärkten.
Dem stünden niedrigere Preise im Rahmen langfristiger Verträge gegenüber, die mit Gazprom abgeschlossen wurden. Hierbei steige der Erdgaspreis, der in Russland an den Preis von Erdöl gebunden ist, üblicherweise langsamer. Die Bindung des Erdgaspreises an den für Erdöl wurde in der EU allerdings bereits 2013 abgeschafft.
"Diejenigen, die sich bereit erklärt haben, langfristige Verträge mit uns in Europa zu unterzeichnen, können sich jetzt nur noch die Hände reiben und sich freuen. Andernfalls hätten sie 650 Dollar zahlen müssen. Und Gazprom verkauft an Deutschland für 220 Dollar – zumindest war das vor Kurzem so."
Gazprom erhöhte 2021 Gasexport in die EU
Auf eine geringere Gaseinfuhr vonseiten Russlands lassen sich die Preisrekorde demzufolge nicht zurückführen. Im August hatte Gazprom zwar beschlossen, sowohl keine zusätzlichen Kapazitäten für einen Gastransit durch die Ukraine zu buchen als auch den Gastransit durch Polen ab dem vierten Quartal 2021 nicht weiter zu erhöhen.
Insgesamt aber hatte Gazprom bereits laut eigenen Angaben seinen Gasexport von Januar bis August 2021 um knapp 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr erhöht, wovon insbesondere auch die EU-Länder profitierten. Deutschland erhielt zum Beispiel 40 Prozent mehr Gas, Italien 15 Prozent, Polen 12 Prozent und Rumänien sogar 344 Prozent mehr.
Der Export Russlands nach Asien nahm ebenfalls zu, wie auch der heimische Eigenbedarf in Russland. Die Produktion von Erdgas wurde in Russland um 17,9 Prozent angehoben.
Die planmäßigen Lieferungen nach Deutschland konnte auch Timm Kehler vom Branchenverband Zukunft Gas bestätigen:
"Nach unserem Kenntnisstand erfüllt Gazprom alle vertraglichen Verpflichtungen gegenüber seinen Kunden."
Grüne und Bild-Zeitung äußern haltlose Vorwürfe
Anstatt die langfristige wirtschaftliche Entwicklung des Gasmarktes in Europa nüchtern zu betrachten, verfiel die Bild-Zeitung wieder in antirussische Rhetorik und titelte am 17. September: "Putins eiskalte Erpressung". In einem haltlosen Vorwurf bezichtigte man die russische Regierung der alleinigen Schuld an den Rekordpreisen für Erdgas in Europa.
Die Befürchtungen aller Kritiker von Nord Stream 2 seien prompt eingetreten: Russland erpresse Deutschland mit dem Ziel, die Inbetriebnahme der Gasleitung Nord Stream 2 zu garantieren.
Diese Mär untermauerte die Bild-Zeitung mit der Behauptung, dass Gazprom nun angeblich weniger Gas in die Gasleitungen durch die Ukraine und Polen einspeise. Das allein habe den derzeit relativ niedrigen Füllstand von Deutschlands Erdgasspeichern zur Folge gehabt – was eben nachweislich überhaupt nicht stimmt.
Wie die Bild-Zeitung geht auch Robert Habeck, der Co-Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, wieder davon aus, dass Russland die Ostseepipeline Nord Stream 2 nun dafür nutzt, Deutschland zu erpressen. Das sagte er am Sonntag im TV-Diskussionsformat bei Anne Will. Sein Fraktionskollege im Bundestag Oliver Krischer sprach ebenso haltlos davon, dass "mindestens die Hälfte" des gestiegenen Gaspreises "auf das Konto" von Gazprom und des russischen Präsidenten gehe.
Nord Stream 2 könnte Preise auf den Spotmärkten ausgleichen
Um ihrer Erzählung Glaubwürdigkeit zu verleihen, versuchte die Bild-Zeitung auch noch Dmitri Peskow, den Sprecher des russischen Präsidenten, zu zitieren, allerdings falsch. Gegenüber Journalisten hatte Peskow am Mittwoch der vergangenen Woche gesagt, dass die frühzeitige Inbetriebnahme von Nord Stream 2 den Erdgaspreis in Europa erheblich ausgleichen würde, und zwar auch auf dem Spotmarkt.
Ebenso wie Putin hatte Peskow zuvor mit Blick auf die Spotmärkte der EU gesagt, dass die Preiserhöhungen von Erdgas gar nichts mit Russland zu tun haben. Die Preissteigerungen, die sich auf den Gasmärkten Europas feststellen lassen, entstanden erst lange nach der Einspeisung des Erdgases nach Europa.
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