Von Tilo Gräser
In Österreich gibt es eine Debatte um die COVID-19-Daten, mit denen die Koalitionsregierung unter Sebastian Kurz (ÖVP) ihre Corona-Politik begründet. Dessen ungeachtet wird im Nachbarland an der Donau bereits über die "1G-Regel" diskutiert. Die kann sich Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) ab Oktober vorstellen, wie er Mitte August dem ORF sagte. Dabei fehlt nach Ansicht des österreichischen Statistikwissenschaftlers Erich Neuwirth immer noch das notwendige Datenmaterial, "um gesundheitspolitisch gut entscheiden zu können".
In einem Gastkommentar in der Zeitung Der Standard vom Montag stellte der Wissenschaftler von der Universität Wien fest, "dass in der Pandemie immer noch viele aussagekräftige Daten fehlen". Ähnliche Aussagen treffen Statistikexperten wiederholt für die Situation in der Bundesrepublik Deutschland.
Neuwirth verwies unter anderem auf die Angaben, wie viele COVID-19-Erkrankte im Krankenhaus normal und wie viele von ihnen auf der Intensivstation behandelt werden. Das werde in der offiziellen österreichischen Statistik bisher nicht unterschieden. Es würden nur die belegten Betten gezählt: "Wie viele dieser Fälle neu dazugekommen sind und wie viele entlassen werden konnten, wird nirgends ausgewiesen."
Datenschutz kein Hindernis
Es sei nicht bekannt, wie viele Menschen im Krankenhaus landen, ebenso nicht, wie viele von ihnen geimpft sind und wie viele nicht. Laut Neuwirth werden zwar die Daten positiv Getesteter erfasst und gemeldet, aber die über negative Corona-Tests nicht veröffentlicht. Es sei auch nicht bekannt, ob und wie sie erfasst werden.
"Die Daten sagen auch nichts darüber, ob die Getesteten COVID-Symptome hatten oder nicht. Somit können wir zum Beispiel auch nicht ermitteln, welcher Prozentsatz von Fällen mit COVID-ähnlichen Symptomen tatsächlich COVID-positiv war und welcher nicht."
Der Statistiker wendet sich gegen das Argument, der Datenschutz verhindere eine genaue Erfassung der notwendigen Daten. Dagegen seien die Angaben zu den Krankenhausaufenthalten und zum Impfstatus dem österreichischen Gesetz nach meldepflichtige klinische Daten. Es sei möglich, die Daten so auszuwerten, dass keine Einzelperson anhand dieser identifizierbar ist, so Neuwirth.
Er nennt als Beispiel die Volkszählung in Österreich. "Saubere Auswertungen, die möglichst viele Informationen enthalten, sind für gesundheitspolitische Entscheidungen sehr wichtig", stellt der Wiener Statistiker klar.
"Was COVID betrifft, haben wir derzeit bei Weitem nicht alle Daten, die für derartige Auswertungen notwendig sind." Aus seiner Sicht haben Zahlen über den Impfstatus der PCR-Getesteten hohe Priorität, "und zwar bei positiven und bei negativen Testergebnissen".
Fehlende Daten für Analyse
Österreichische Experten kritisieren seit Langem die Datenlage zu Infektionen und deren Hintergründen. Das berichtete die Wiener Zeitung bereits im April dieses Jahres. Es fehlten wichtige Daten, um die Pandemie einschätzen zu können, so unter anderem "welche Berufsgruppen besonders ansteckungsgefährdet sind; wie sehr bestehende Vorerkrankungen oder die Einnahme von Medikamenten den COVID-19-Verlauf beeinflussen; oder wie oft Schulkinder ihre Eltern anstecken und umgekehrt. Ebenso gehe es um den Anteil, den einzelne Maßnahmen wie die FFP2-Maskenpflicht oder der Gastro-Lockdown beim Rückgang des Infektionsgeschehens hatten".
Doch diese Informationen seien kaum vorhanden, so Fachleute laut der Wiener Zeitung. Das sehe in skandinavischen Ländern anders aus, so in Schweden, das als "Vorreiter in Digitalisierungsprozessen" gegolten habe. Das helfe dort nun in der Pandemie. "Auch abseits von Corona erhebt Österreich viele Daten, die für Evaluierungen nötig wären, gar nicht", sagte Gesundheitsökonom Thomas Czypionka vom Institut für Höhere Studien der Zeitung im April.
So würden die Daten der Intensivstationen in Krankenhäusern nicht mit jenen der "normalen" Krankenhausbetten verknüpft. Wissenschaftler, die Informationen zu Modellberechnungen auswerten, "wissen also nicht, wann ein Patient mit welchen Vorerkrankungen von der Normal- auf die Intensivstation gekommen ist", wurde Czypionka zitiert.
"Politische Gestaltung sollte nicht ohne Evaluierung stattfinden", sagte die auf Gesundheitspolitik spezialisierte Politikwissenschaftlerin Katharina T. Paul laut Wiener Zeitung. Das gelte erst recht für die Entscheidungen in der Pandemie. Eine gute Datenlage sei ebenso eine "Frage der demokratischen Qualität bei der Entscheidungsfindung".
Fehlende Daten verhindern gezielte Maßnahmen
Mit der nicht ausreichenden Datenlage in der Pandemie setzt sich auch der österreichische Gesundheitswissenschaftler Martin Sprenger seit dem Frühjahr 2020 auseinander. In seinem Buch "Corona-Rätsel" warf er nicht nur der Regierung in Wien Versagen vor. In einem Interview mit dem ORF Ende April dieses Jahres wiederholte er seine Kritik unter anderem am Beispiel der fehlenden Daten.
"Hätten wir von Anfang an das von mir vorgeschlagene Basisdatenset bei jedem positiv getesteten Fall erhoben, also Name, Alter, Geschlecht, Beruf, Symptome, Body-Mass-Index, Grunderkrankungen etc. und mit Sozialversicherungsdaten verknüpft, dann wüssten wir genau, welche Personengruppen sich eher infizieren, wer und wie viele Menschen Symptome entwickeln, schwer erkranken, auf Intensivstationen landen oder versterben. Also spezifisch informiert, geschützt oder zuerst geimpft werden sollten."
Das seien "gewaltige Datenmengen", so Sprenger, "aber sie würden die Modelle viel präziser machen, helfen den Versorgungsbedarf abzuschätzen, oder gezielte Präventionsmaßnahmen zu planen und umzusetzen". Viele Daten würden weiterhin nicht veröffentlicht, was "von fast allen Experten als größtes Versäumnis angesehen" werde.
Blindflug ohne professionelles Cockpit
Für Sprenger reichen die sogenannte Inzidenz und die Krankenhausdaten nicht aus. Das seien nur die "Höhen- und Geschwindigkeitsmesser, und nicht einmal die sind genau". Der Gesundheitsexperte weiter:
"Wir haben uns nie um ein professionelles Cockpit bemüht und fliegen jetzt eher nach Gefühl durch dieses Infektionsgeschehen. Mit mehr Instrumenten, einer besseren, präziseren Datenbasis ist auch ein viel besseres, smarteres Risikomanagement möglich."
Es handele sich um einen "Blindflug durch die Pandemie", zitiert Sprenger den deutschen Gesundheitsstatistiker Gerd Antes.
Auch er meint, dass die skandinavischen Länder "deutlich professioneller" infolge der "viel fortgeschritteneren Digitalisierung" handelten. Zudem fordert der Gesundheitswissenschaftler, die Daten einzuordnen:
"Wenn man sagt, mittlerweile gibt es über drei Millionen COVID-19-Tote weltweit, dann ist auch das natürlich ein gewaltiges Drama. Trotzdem muss es erlaubt sein, auch auf die fast sechs Millionen Kinder hinzuweisen, die vor dem fünften Lebensjahr an vermeidbaren Ursachen und behandelbaren Erkrankungen versterben. Jedes Jahr, immer und immer wieder."
Die meisten dieser Kinder stürben an Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose und HIV/Aids, Durchfallserkrankungen und Lungenentzündungen. "Das nehmen wir hin", kritisiert Sprenger. In der COVID-19-Pandemie entstehe "nicht überraschend eine ganz andere Dynamik, führen wir eine ganz andere öffentliche Debatte. Für die COVID-19-Sterbefälle haben wir ein eigenes Dashboard, die vorzeitig verstorbenen Kinder haben immer noch keines und werden wohl nie eines bekommen."
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