Zigtausende neue Krankenschwestern und Polizisten sollen die Briten dank und laut der aktuellen britischen Regierung haben. Seit Antritt der konservativen Regierung im Jahr 2010 soll die Wirtschaft um 73 Prozent gewachsen sein. Auch soll der staatlich organisierte Gesundheitsdienst (National Health Service, NHS), der ein Fokus in der Brexit-Kampagne war, finanziell viel besser von der aktuellen Regierung ausgestattet worden sein. Und weiterhin, so behauptete der britische Premierminister Boris Johnson, sollen 400.000 Familien weniger in Armut leben, seit die Konservativen im Jahr 2010 die Labour-Regierung ablösten.
Die Fakten sprechen aber leider eine andere Sprache. So wurden die Gesundheitsausgaben nach 2010 – als die Regierung unter David Camerons Mitte-rechts-Kurs der Konservativen zusammen mit Nick Cleggs Liberaldemokraten begann – gesenkt, während die Armut im Land drastisch zugenommen hat und nunmehr über 14 Millionen Menschen betrifft. Das Wachstum stieg aber nicht etwa erst seit dem Jahr 2010 um 73 Prozent, sondern bereits seit 1990.
Mind the gap
Diese Lücke zwischen den Aussagen einiger britischer Politiker – insbesondere des Premiers Boris Johnson – und der Realität wollen offenbar viele Briten nicht mehr hinnehmen. Eine Petition, wonach Lügen im britischen Unterhaus unter Strafe gestellt werden sollen, hatte in kurzer Zeit die Marke von 10.000 Unterschriften geknackt, ab der eine Antwort der Regierung notwendig ist. Diese Antwort hat den Menschen im Land offenbar ganz und gar nicht genügt, noch mehr unterstützen den Aufruf, in dem es heißt:
"Die Wahrheit im Unterhaus ist genauso wichtig wie die Wahrheit vor Gericht. Verstöße sollten ähnlich wie Meineid behandelt werden und ähnliche Strafen nach sich ziehen."
Deshalb sollte die Regierung in London ein Gesetz einführen, das Lügen im Unterhaus unter Strafe stellt.
"Dies würde bedeuten, dass alle Abgeordneten, einschließlich der Minister, für wissentliche Falschaussagen im Unterhaus eine schwere Strafe zu erwarten hätten, wie es auch vor Gericht der Fall ist", fordert die Petition, die am Mittwoch bereits über 123.000 Unterschriften erhalten hat.
"Wir glauben, dass im Parlament falsche Aussagen gemacht wurden, und obwohl dies grundsätzlich als 'schweres Vergehen' gilt, sind die Möglichkeiten, dies anzufechten, äußerst begrenzt, da es im Parlament verboten ist, ein Mitglied der Lüge zu bezichtigen."
Diese Regelung hatte im Juli dazu geführt, dass eine junge, aber erfahrene Politikerin, die die Lügen der Regierung wörtlich als solche bezeichnete, aus dem Parlament verwiesen wurde. Die Abgeordnete Dawn Butler hatte in ihrer Rede auf ein Video Bezug genommen, in dem der Anwalt und Gewerkschaftsaktivist Peter Stefanovic eine Reihe eklatanter Unwahrheiten aufzählt, die Premierminister Boris Johnson seit seinem Amtsantritt vor rund zwei Jahren verbreitet hat.
Während sich Butler der Konsequenzen im Klaren gewesen sein dürfte, nutzte sie die Worte "Lüge" und "Lügner" wohl auch, um so die Konventionen des Unterhauses als veraltet zu entlarven. Dennoch scheinen der Regierung die bestehenden Regelungen zu genügen. In ihrer Antwort auf die Petition hieß es, dass "nicht beabsichtigt" sei, "Rechtsvorschriften dieser Art einzuführen". Weiter beruft sich die Regierung in der Antwort auf Redefreiheit und bestehende Grundsätze:
"Es ist ein wichtiger Grundsatz des britischen Parlaments, dass die Abgeordneten denjenigen gegenüber rechenschaftspflichtig sind, die sie gewählt haben. Es ist absolut richtig, dass alle Abgeordneten ihren Wählern gegenüber in vollem Umfang rechenschaftspflichtig sind für das, was sie sagen und tun, und dies spiegelt sich letztendlich an der Wahlurne wider."
"Die Redefreiheit im Parlament ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie. Es ist ein Recht, das es dem Parlament ermöglicht, frei und uneingeschränkt zu arbeiten und sicherzustellen, dass die Abgeordneten in der Lage sind, ihre Meinung in Debatten zu äußern und die Ansichten ihrer Wähler ohne Furcht oder Bevorzugung zu vertreten. Das parlamentarische Vorrecht, das die Redefreiheit und das Recht der beiden Kammern des Parlaments, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, umfasst, gewährt den Mitgliedern beider Kammern bestimmte rechtliche Immunitäten, die es ihnen ermöglichen, ihre Aufgaben ohne Einmischung von außen zu erfüllen."
Nach ihrer Wahl werde von den Abgeordneten erwartet, dass sie sich an "die sieben Grundsätze des öffentlichen Lebens halten, die die Grundlage für die von Inhabern öffentlicher Ämter geforderten ethischen Standards bilden. Diese werden vom Ausschuss für Normen im öffentlichen Leben festgelegt und lauten: Selbstlosigkeit, Integrität, Objektivität, Rechenschaftspflicht, Offenheit, Ehrlichkeit und Führung".
Jeder Inhaber eines öffentlichen Amtes müsse also bereits "wahrheitsgetreu sein und unparteiisch, fair und auf der Grundlage der besten Beweise und ohne Diskriminierung oder Voreingenommenheit handeln und Entscheidungen treffen".
Außerdem berief sich die Regierung auf den bestehenden Verhaltenskodex des Unterhauses sowie einen Leitfaden für die Verhaltensregeln der Abgeordneten (Guide to the Rules relating to the Conduct of Members), wonach die Abgeordneten "bei allen Gelegenheiten im Einklang mit dem in sie gesetzten öffentlichen Vertrauen handeln" sollen und sich "stets aufrichtig und integer verhalten, auch bei der Verwendung öffentlicher Mittel".
Stefanovic schrieb auf Twitter, er begrüße die Petition und die Debatte, jedoch widersprach er der Antwort der Regierung vehement. Es könne nicht sein, dass der Redner auf der einen Seite behaupte, kein Abgeordneter würde jemals absichtlich lügen, um das Haus in die Irre zu führen, während er auf der anderen Seite wegschaue, "wenn der Premierminister eine falsche Aussage nach der anderen macht".
"Die Öffentlichkeit sieht das, und sie hat einfach genug davon."
Selbst Peter Osborne, ehemaliger Parteifreund Johnsons, der sich weiter dem konservativen Lager zurechnet, hat kürzlich ein Buch mit dem Titel "Der Angriff auf die Wahrheit" veröffentlicht, in dem er eine lange Liste mit dessen Lügen und Verdrehungen an den Speaker des House of Commons vorlegt. Und sogar der Ex-Chefstratege Dominic Cummings, den Johnson persönlich in die Regierung gebracht hatte, der diese im November letzten Jahres verließ, trat zwischenzeitlich vor einen Ausschuss, um die Lügen der Regierung anzuprangern. In seinem Blog schrieb Cummings, es sei "traurig zu sehen, dass der Premierminister und sein Amt so weit unter die Standards der Kompetenz und Integrität fallen, die das Land verdient".
Anwalt Stefanovic, dessen Video bisher mehr als 32 Millionen Mal angesehen wurde, sagte in der National World:
"Als Juristen achten wir das Verbrechen des Meineids in unseren Gerichten, das sehr ernst genommen wird. Die Grundlage unseres Rechtssystems hängt von Vertrauen und Glaubwürdigkeit ab, und dieser Grundsatz sollte auch, wenn nicht sogar noch mehr, für unsere politischen Institutionen gelten, denn wenn sie durch Lügen und falsche Aussagen untergraben werden, ist unsere Demokratie in Gefahr. Das ist im Wesentlichen das, was wir unter der Premierministerschaft von Boris Johnson erleben."
Halbwahrheiten, Täuschungsmanöver und gar Lügen – dies sei unter Boris Johnson schlimmer als bei früheren Premierministern und gar Alltag geworden, so Stefanovic:
"In der Vergangenheit haben wir immer wieder erlebt, dass Premierminister in der einen oder anderen Angelegenheit als nicht vertrauenswürdig bezeichnet wurden, aber jetzt haben wir eine Situation erreicht, in der der Premierminister das Lügen im Parlament normalisiert hat."
"Die Mehrheit der Menschen in diesem Land ist von Natur aus ehrlich, wie um alles in der Welt kann es also akzeptabel sein, dass der Premierminister dies immer und immer wieder tut?"
Auch eine Reihe von Filmstars und Produzenten hat in einer Petition darauf aufmerksam gemacht, dass die Lügen in der britischen Politik dazu führen, dass sich junge Menschen davon abwenden. Laut Stefanovic sei es bis zu einem gewissen Grad beinahe unerheblich, ob der britische Premier in jedem Fall vorsätzlich lügt. Denn Johnson habe sich konsequent geweigert, die nachweislich falschen Aussagen zu korrigieren, und damit verstoße er gegen den Ministerkodex:
"Der Ministerkodex besagt, dass ein Mitglied, das dem Parlament versehentlich falsche Informationen gibt, darauf zurückkommen und die Aufzeichnungen korrigieren muss, und wenn es das nicht tut, hat es das Parlament belogen."
Die Petition hat seit der hunderttausendsten Unterschrift eine weitere Schwelle überschritten. Ab dieser Größenordnung führen Petitionen meist zu einer Debatte im Unterhaus.
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