Vor wenigen Tagen veröffentlichte die niederländische Zeitung De Volkskrant einen sechsseitigen Bericht über ein asylsuchendes Ehepaar aus Russland, dessen Asylantrag von den Migrationsbehörden abgelehnt wurde. Das Paar behauptete, über wichtige Informationen illegaler russischer Aktivitäten in der Ukraine zu verfügen. De Volkskrant machte sich mit dem Dossier der Asylsuchenden vertraut und hat ihre Geschichte unter dem Titel "Rekonstruktion von MH17. Sie sind auf der Flucht vor russischen Sicherheitsdiensten und ihnen droht die Abschiebung" veröffentlicht. Kurz gefasst lässt sie sich so darstellen:
Einmal wurde die junge Frau (im Artikel Elena genannt) unfreiwillig Zeugin eines Telefonats mit dem Chef ihres Freundes. Er soll mit einem hochrangigen Kommandeur der Aufständischen in der Ostukraine gesprochen haben. Sein ukrainischer Bekannter teilte ihm mit, dass es Rebellen gelungen war, ein großes Flugzeug im Himmel über dem Kampfgebiet abgeschossen zu haben. Das war am 17. Juli 2014, die abgeschossene Maschine war die malaysische Boeing mit der Flugnummer MH17. Nach dem Gespräch hätte der Chef gegenüber ihrem Freund (im Artikel Igor genannt) bestätigt, dass die Boeing mit einer Buk-Rakete abgeschossen worden wäre.
Das war aber nicht das einzige Geheimnis der Firma. Das zwielichtige Unternehmen war auch am Schmuggel von gefälschten ukrainischen Pässen für russische Kämpfer in der Ostukraine beteiligt – auch das erfährt die junge Frau, die sich im Jahre 2015 als Mitarbeiterin in die Firma ihres Freundes einschlich. Generell steht sie dem russischen Staat sehr kritisch gegenüber, verfasst kritische Kommentare in sozialen Medien und nimmt an Kundgebungen gegen die russische "Okkupation" der Krim teil.
Ende 2015 wird ihr Freund der Veruntreuung von Firmengeldern beschuldigt. Ihre Spionage-Tätigkeit in der Firma fliegt auf, der russische Inlandsgeheimdienst FSB wird darüber in Kenntnis gesetzt. Der will nicht, dass das Paar die Geheimnisse des MH17-Abschusses und der gefälschten Pässe weitererzählt, und beginnt, das Paar zu verfolgen.
So kidnappen die FSB-Mitarbeiter Igor kurzerhand, schlagen und bedrohen ihn. Nach zwei Tagen kehrt er nach Hause zurück. In diesen Tagen findet Elena ihre Katze tot vor der Haustür. Dann kommen FSB-Offiziere in ihre Wohnung und verhören sie. Als sie die zweite, noch lebende Katze sehen, machen sie eine vielsagende Andeutung – "Seien Sie vorsichtig. Es kann ja alles passieren."
Doch damit ist der Leidensweg der Asylsuchenden noch nicht zu Ende. An einem kalten Tag im Winter 2016 ziehen dieselben FSB-Mitarbeiter dem Mann eine Haube über den Kopf, bringen ihn in den Wald und inszenieren seine Erschießung. Er habe den kalten Lauf der Pistole an seiner Schläfe gespürt, so die Zeitung, die in ihrem Bericht die Szene nachzeichnet. Nach diesen gruseligen Erlebnissen beschließt das junge Paar, in die Niederlande zu fliehen. Sie reisen mit einem touristischen Visum ein und stellen einen Asylantrag.
Aber weil sie Angst vor dem FSB haben, beschließen die Asylsuchenden, den niederländischen Behörden nichts über den Abschuss der malaysischen Boeing zu berichten. Sie erzählen von Betrug und Einschüchterungen, ohne ins Detail zu gehen. Als ihr Antrag von der Einwanderungsbehörde IND im Sommer 2018 abgelehnt wird und sie den Abschiebebescheid bekommen, packen sie aus und versuchen, gegen die Abschiebung beim Gericht zu klagen. Ihre Erkenntnisse legen sie nun auch den Ermittlern des Joint Investigation Teams (JIT) dar. Die Ermittler versprechen, sich nach Prüfung der Sachlage zu melden. Doch trotz der Enthüllungen gibt das Gericht der Einwanderungsbehörde Recht und ihre Klage wird abgewiesen. Auch das JIT hat das Paar nicht wie erhofft in das Zeugenprogramm aufgenommen.
Dem Bericht zufolge halten sich die beiden immer noch im Land auf und sind inzwischen untergetaucht. Sie geben nicht auf. Derzeit ruhen ihre Hoffnungen auf der Klage ihres Anwalts vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Doch es könnte Jahre dauern, bis dort eine Entscheidung ergeht.
Die Veröffentlichung der niederländischen Zeitung hat der bekannte ukrainische Journalist und Medienexperte Anatolij Scharij in einem vielbeachteten Videobeitrag ausführlich kommentiert. Im Jahre 2012 stellte er selbst einen Asylantrag in den Niederlanden, weil in der Ukraine gegen ihn ermittelt wurde. Schon damals, zu Zeiten von Janukowitsch, legte er sich mit den Mächtigen in Kiew an. Inzwischen hat der Journalist aus dem Exil mehrere eigene Medienplattformen aufgebaut – darunter das Nachrichtenportal sharij.net und seinen eigenen Videoblog bei Youtube mit fast 2,5 Millionen Abonnenten. Außerdem baute er seine eigene politische Partei auf, die bei den letzten Kommunalwahlen in mehreren Regionalparlamenten Sitze errang.
Scharij ist sich sicher, dass die Geschichte mit der Boeing und dem FSB von dem Paar frei erfunden wurde – mit dem Ziel, den gescheiterten Asylantrag zu retten. Er betont, dass die Ermittler der niederländischen Einwanderungsbehörde IND die Geschichte völlig zu Recht skeptisch sehen – vor allem, weil das Paar erst nach zweieinhalb Jahren über ihre "Enthüllungen" berichtete. Er weist darauf hin, dass aus dem Artikel nicht hervorgeht, dass Elena und Igor außer ihren mündlichen Behauptungen überhaupt irgendwelche Belege für die Wahrhaftigkeit ihrer Schilderungen haben. Selbst die Kopien der gefälschten Pässe, die sich Anna beschafft haben will, seien angeblich vom FSB beschlagnahmt worden. Auch Igor sei angeblich zum Gericht vorgeladen worden, was nicht ohne schriftliche Benachrichtigung möglich ist.
"Meine Erfahrung mit der niederländischen Migrationsbehörde ist folgende – sie setzen sich bei der Vernehmung zu dir und fragen: "Na, erzähl mal deine Lüge." Sie gehen grundsätzlich davon aus, dass die Asylsuchenden in aller Regel ihre Geschichten erfinden, um irgendwie Asyl mit all den Privilegien wie einer bezahlten Wohnung und regelmäßigen Sozialleistungen zu bekommen. Es gibt viele solche Verfolgungsgeschichten. Vor allem im postsowjetischen Raum gibt sehr viele, die angeblich vor dem FSB fliehen", sagt er im Gespräch mit RT DE. Doch die "Geschichte mit dem Belauschen" habe auch ihn sehr verwundert.
Scharij versteht, was Leute wie das russische Paar, das in seiner Heimat offenbar in finanzielle Schwierigkeiten geriet, bewegt. Die westlichen Medien konstruieren die Geschichte aber so, dass man an Ende "jeden Stuss" Glauben schenken könne – in diesem Fall durch eine Auswahl anonymer Experten, die die Schilderungen der beiden Asylsuchenden als glaubwürdig bewerteten. "Weil die Story in alle bekannten russophoben Klischees passt".
So könne "jeder Verrückte", wenn er sagt, Putin habe ihn verfolgt, mit Ehren empfangen werden. Wenn aber jemand von den "eigenen Schurken" verfolgt wird, passiere das Gegenteil, sagt er im Hinblick auf Länder wie die Ukraine. Scharij verweist darauf, dass Aktivisten seiner Partei mehrmals von den Nationalisten brutal angegriffen wurden. Auch gegen ihn selbst gibt es ein laufendes Verfahren des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU. "Litauen, wo ich 2012 Asyl bekam, teilte aber unlängst mit, dass mir nun in der Ukraine nichts drohe." 2012 war in der Ukraine Wiktor Janukowitsch der Präsident, der in der EU als "prorussisch" galt. "Das sind die Doppelstandards, die mit jeder solcher Publikation immer wieder deutlich werden".
Mehr zum Thema - Deutsche Welle berichtet faktenfrei über "russische Mordpläne" in Tschechien