Am Montag begingen die Briten den so getauften "Freedom Day" (Tag der Freiheit). Dieser wurde zuvor aufgrund steigender Zahlen positiv getesteter Briten bereits einmal verschoben. Doch nun war es so weit: Nach sechzehn Monaten des rigorosen Corona-Regimes wurden fast alle Corona-Restriktionen in England von der britischen Regierung unter Premierminister Boris Johnson aufgehoben.
Der britische Premierminister selbst befindet sich in Quarantäne. Zuvor hatte Johnson Kontakt zu Gesundheitsminister Sajid Javid, der nach eigenen Angaben leichte Corona-Symptome verspürte. Ebenso wie sein Gesundheitsminister wurde Johnson bereits zweimal geimpft. Bei einer Pressekonferenz brachte der Premierminister den neuen Corona-Ansatz des Vereinigten Königreichs auf den folgenden Punkt:
"Wir müssen uns die Frage stellen: wenn nicht jetzt, wann dann?"
Johnson unterstrich bereits zuvor, dass die Aufhebung der Maßnahmen kein Anzeichen dafür sei, dass die Pandemie für die britische Regierung nun vorbei sei. Es gehe vielmehr darum, die Selbstverantwortung der Bevölkerung für die eigene Gesundheit wieder in den Vordergrund zu stellen.
"Es ist richtig, so vorsichtig vorzugehen, wie wir es tun. Es ist auch richtig, zu erkennen, dass diese Pandemie noch lange nicht vorbei ist."
Auch hierzulande sorgte die Nachricht über den britischen Freedom Day für überwiegend kritische Schlagzeilen.
Hintergrund ist die vermeintliche Fahrlässigkeit der britischen Regierung angesichts einer nach offiziellen Angaben wieder stark ansteigenden Anzahl positiver Getesteter. Auslöser ist demzufolge die Delta-Variante des Erregers SARS-CoV-2.
Gesundheitsminister Javid erklärte bereits Anfang Juli, dass aufgrund der Lockerungen Infektionszahlen in der Größenordnung von 100.000 für die kommenden Wochen und Monate durchaus realistisch seien.
"Aber was mehr als alles andere zählt, sind die Zahlen der Krankenhausaufenthalte und der Todesfälle, und das ist der Punkt, an dem die Verknüpfung stark geschwächt wurde."
Die britische Regierung zeigt sich zuversichtlich, da auch in Großbritannien eine hohe Impfquote als Schutz vor COVID-19 gilt. Inzwischen haben 88 Prozent der erwachsenen Briten eine erste Corona-Impfung erhalten. Knapp 68 Prozent sind bereits zweimal geimpft – und genießen daher offiziell vollen Impfschutz. Johnson erklärte anlässlich des Freedom Day:
"Das massive Impfprogramm hat die Verbindung zwischen Ansteckung und Krankenhauseinweisung sowie zwischen Ansteckung und schwerer Erkrankung und Tod erheblich geschwächt."
Auch in Berlin und selbst beim Robert Koch-Institut macht man sich in der Zwischenzeit Gedanken darüber, inwiefern die "Mutter aller Zahlen", die Infektionszahl, insbesondere bei hoher Impfquote noch als Indikator dienen kann und sollte.
Nun ist es diesseits und jenseits des Ärmelkanals folglich die Impfquote, die bei den Diskussionen um die Rückgabe von Freiheitsrechten in den Vordergrund gerückt ist. Und da hatte Johnson am "Tag der Freiheit" eine Botschaft im Gepäck, die nunmehr für Aufsehen und Proteste in Großbritannien sorgt.
Der britische Premierminister verkündete, dass ab Ende September nur noch doppelt geimpfte Bürger das Recht besäßen, Veranstaltungen zu besuchen, bei denen "große Menschenmengen" aufeinandertreffen. Dies gilt etwa für Clubs und Bars – diese durften seit Montag wieder vollständig ihre Pforten öffnen.
Im Gegensatz zum erwachsenen Teil der Bevölkerung liegt die Impfquote bei den 18- bis 35-jährigen Briten aktuell bei etwa 35 Prozent. Für die britische Regierung ein Grund zur Sorge, da dieser Teil der Bevölkerung zwar kaum von schweren COVID-19-Verläufen betroffen ist, das Risiko von Übertragungen aber dennoch nach wie vor unkalkulierbar sei. Johnson erklärte:
"Ich möchte nicht, dass die Nachtclubs wieder geschlossen werden müssen, so wie es anderswo geschehen ist. Das bedeutet aber, dass Nachtclubs sozial verantwortlich handeln müssen."
Und angesichts seiner Ankündigung argumentierte der 57-Jährige, dass alle über 18-Jährigen bis Ende September genügend Zeit hätten, sich zweimal impfen zu lassen.
Laut dem leitenden wissenschaftlichen Berater der britischen Regierung, dem Pharmakologen Patrick Vallance, handele es sich bei den Veranstaltungen, für die ab Ende September das neue Impfmandat gelten soll, um "potenzielle Superspreader-Veranstaltungen".
"Ich würde erwarten, dass wir mit der Eröffnung von Nachtclubs weiterhin einen Anstieg der Fälle sehen werden, und wir werden auch Ausbrüche sehen, die mit bestimmten Nachtclubs zusammenhängen."
Gleichzeitig korrigierte Vallance eine Statistik, die u. a. der SPD-Politiker und Gesundheitsökonom Karl Lauterbach aufgegriffen hatte. "Ich korrigiere eine Statistik, die ich auf der Pressekonferenz gegeben hatte. Etwa 60 Prozent der Hospitalisierungen durch COVID stammen nicht von doppelt geimpften Menschen, sondern 60 Prozent der Hospitalisierungen durch COVID stammen derzeit von ungeimpften Menschen."
Derweil sorgte die September-Ankündigung des britischen Premierministers in den sozialen Medien für einigen Unmut.
Auch die Besitzer von Bars, Nachtclubs und anderen Lokalitäten zeigen sich irritiert bis empört.
Zu den Kritikern zählt auch der wirtschaftliche Berater für den Großraum Manchester, Sacha Lord. Er sei weder Wissenschaftler noch Arzt, gibt die BBC Lord wieder. Er sei jedoch "zutiefst besorgt" über die mutmaßliche Diskriminierung derjenigen, "die den Impfstoff entweder aus medizinischen Gründen oder aus Altersgründen nicht bekommen können oder nicht wollen. Sicherlich hätten diese Antworten zur gleichen Zeit wie diese Ankündigung gegeben werden müssen", ergänzte der Mitschöpfer des Parklife Festivals.
"Was bedeutet das für Festivals oder Live-Musikveranstaltungen, die sich speziell an Jugendliche oder Kinder richten, die nicht geimpft werden? Bedeutet dies nun, dass junge Menschen, die bereits enorm unter dieser Pandemie gelitten haben, nun nicht in der Lage sein werden, den Nervenkitzel zu erleben, ihren Lieblingskünstler auf der Bühne zu sehen?"
Am Dienstag kritisierte Lord, dass die britische Regierung demzufolge nicht länger ausschließe, dass neue Impfmandat auch auf die Pub-Wirtschaft auszudehnen.
Derweil versammelten sich in der Nähe des britischen Parlaments Demonstranten, um unter dem Motto "Wir stehen zusammen" gegen die aktualisierte Impfpolitik zu protestieren.
In Schottland, Wales und Nordirland sind Lokalitäten wie Nachtclubs noch immer geschlossen. In ganz Großbritannien wurden am Montag 39.950 Infektionsfälle registriert.
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