Die ukrainische Regierung war von der Entscheidung der USA, keine weiteren Sanktionen gegen die Nord Stream 2 AG zu verhängen, sehr unangenehm überrascht. Dies brachte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij in einem am Sonntag veröffentlichten Interview mit dem US-Nachrichtenportal Axios zum Ausdruck.
Als strategischer Partner hintergangen
"Ich habe aufrichtig geglaubt, dass, wenn es um Nord Stream 2 geht, die USA, sagen wir, die letzte Bastion bleiben. Deshalb waren wir sehr unangenehm überrascht."
In der Tat kam die Entscheidung der US-Regierung für die Junior-Partner in Kiew gleich in mehrfacher Sicht unangenehm überraschend: So äußerte Selenskij auch Unverständnis darüber, dass die US-Seite die Ukraine nicht im Voraus von ihrer Entscheidung auf einen Verzicht auf weitere Sanktionen informiert habe:
"Ich war mehrmals überrascht. Abgesehen von der US-Entscheidung als solche war die zweite Überraschung definitiv die Tatsache, dass ich davon aus der Presse erfahren habe."
Der ehemalige professionelle Komiker, unter anderem für seine extravagante Darbietung der ukrainischen Nationalhymne bekannt, fügte hinzu:
"Strategische Partner sollten miteinander direkte Beziehungen unterhalten."
Vertrauen in Washington erschüttert
Die jüngsten Entscheidungen des amtierenden US-Präsidenten Joe Biden und dessen Regierung haben das Vertrauen Kiews in die Unterstützung Washingtons verringert, resümierte der ukrainische Präsident.
"All diese Schritte, die wir mit Ihnen erst besprochen haben, schwächen das Vertrauen innerhalb der Ukraine in die unerschütterliche Unterstützung."
Selenskij bezeichnete das Nord Stream 2-Projekt als eine "Waffe" und zeigte sich enttäuscht darüber, dass die USA an Moskau "Munition" für diese Waffe liefern würden:
"Dies ist eine Waffe in den Händen der Russischen Föderation. Es ist absolut nicht begreiflich und, ich denke, zweifellos unerwartet, dass die Kugeln für diese Waffe von einem so großen Staat wie den USA zur Verfügung gestellt werden."
Syndrom des verlassenen Gatten: "Joe Biden ist ein Michael Jordan der Politik"
Dennoch ist Selenskij davon überzeugt, Biden könne "in seinen Beziehungen zur Russischen Föderation definitiv pragmatisch, substanziell und klug genug handeln". In Bezug auf Nord Stream 2 äußerte Selenskij die Hoffnung, dass der US-Präsident ähnlich wie Michael Jordan, den der ukrainische Staatschef als seinen Lieblingsbasketballspieler bezeichnete, handeln und Gegner in ein "falsches Siegesgefühl" einlullen und dann "den Sieg in allerletzter Minute holen" werde. Wenn dies nicht der Fall sei, sei das bedauerlich:
"Es wird das Gefühl entstehen, dass Russland unter diesen Umständen eine große Chance hat, die Oberhand über die USA zu gewinnen."
Erwartungen im Vorfeld des Putin-Biden-Gipfels: Ein Treffen "zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort der Welt"
Am 16. Juni soll in Genf ein Gipfeltreffen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem US-amerikanischen Amtskollegen Joe Biden stattfinden. Nach Angaben des Kremls werden die Staatschefs Fragen der Stabilität und Sicherheit, die Zukunft der bilateralen Beziehungen angesichts der aktuellen Spannungen und die Kooperation im globalen Kampf gegen die COVID-19-Pandemie diskutieren. Der ukrainische Präsident schlug in diesem Zusammenhang Biden vor, sich mit ihm vor dem Gipfel mit dem russischen Präsident "zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort der Welt" zu treffen.
Nach Ansicht des ukrainischen Staatschefs sucht der US-Präsident durch das Gipfeltreffen in Genf ein "stabiles und vorhersehbares" Verhältnis zu Putin. Dabei empfahl Selenskij Biden, Russland dazu zu bewegen, selbst eine Verbesserung der Beziehungen zu Washington zu suchen.
Der ukrainische Präsident zeigte sich gegenüber der Biden-Regierung dankbar für die Unterstützung während der Eskalation des Konflikts in der Ostukraine im Frühling dieses Jahrs. Er unterstrich jedoch, dass der Verzicht auf Sanktionen gegen Nord Stream 2 das Vertrauen der Ukraine in die USA untergraben werde.
Außerdem teilte Selenskij mit, er bezweifle nicht, dass die Ukraine Mitglied der Nordatlantischen Allianz werde. Der NATO-Beitritt sei lebenswichtig für die Sicherheit des Landes.
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