Schon vor sechzig Jahren stellte Ankara einen Assoziierungsantrag. Im Jahr 1999 wurde der Türkei der Status eines offiziellen EU-Beitrittskandidaten zuerkannt, 2005 wurden Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union mit Ankara aufgenommen. Doch die Gespräche liegen auf Eis.
Nun hat das EU-Parlament die EU-Kommission aufgefordert, die ohnehin stillstehenden Verhandlungen angesichts der angespannten Beziehungen offiziell auszusetzen. Die Entscheidung liegt nun bei den Mitgliedsstaaten. Unter den EU-Ländern setzt sich etwa Österreich seit mehreren Jahren bereits für den Abbruch der Beitrittsgespräche mit Ankara ein. Auf der anderen Seite hatten sich bislang Deutschland, Bulgarien und Ungarn gegen eine Aussetzung ausgesprochen.
2019 hatte die EU wegen der umstrittenen Erdgasbohrungen der Türkei im östlichen Mittelmeer Sanktionen gegen Ankara beschlossen. Neben Zypern und Griechenland pocht auch Frankreich seit Jahren auf eine möglichst harte Linie gegenüber Ankara.
In einem am Mittwoch – mit einer deutlichen Mehrheit von 480 zu 64 Stimmen bei 150 Enthaltungen – angenommenen Bericht des EU-Parlaments heißt es nun: Sollte die Türkei den negativen Trend weg von den Werten und Normen der Staatengemeinschaft nicht konsequent umkehren, bestehe man auf die Aussetzung dieser Verhandlungen. So könnten eventuell neue Modelle für die künftigen Beziehungen gefunden werden.
Die EU-Abgeordneten sehen Rückschritte in der Türkei bei Grundrechten und der Rechtsstaatlichkeit sowie bei institutionellen Reformen. Nicht zuletzt kritisieren sie die Außenpolitik der Türkei in Teilen als feindselig – auch gegenüber der EU und ihren Mitgliedsstaaten.
Im Bericht wurde festgestellt, dass sich die EU-Beziehungen zu Ankara zusehends verschlechtert haben. Sie befänden sich an einem "historischen Tiefpunkt". Dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wurden autoritäre Maßnahmen vorgeworfen. In den letzten zwei Jahren habe es ein beispiellos hartes Vorgehen gegen die Opposition und die Medien gegeben, heißt es etwa im Bericht.
Gleichzeitig verwiesen die Abgeordneten darauf, dass ein enger Dialog und die Zusammenarbeit mit der Türkei im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik weiter bestehen müsse. Man befürworte weiter die Visaliberalisierung und wolle die Bevölkerung in der Türkei unterstützen.
Aus Ankara kam umgehend eine Reaktion. Der Bericht wurde als "inakzeptabel" zurückgewiesen. Er sei einseitig und keinesfalls objektiv und komme zudem in einer Zeit, in der man versuche, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei im Rahmen einer "positiven Agenda" wiederzubeleben, teilte das türkische Außenministerium mit.
Als EU-Beitrittskandidat erwarte die Türkei "konstruktive Anstrengungen" vom EU-Parlament, um die Beziehungen zur Türkei zu verbessern, anstatt eine Plattform für "gegenstandslose Vorwürfe und blinde Anschuldigungen" zu bieten.
Der Fraktionsvorsitzende der Christdemokraten, Manfred Weber (CSU), sprach jedoch von einem starken Signal. Bereits Anfang April, kurz vor einem Besuch von EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel in Ankara, hatte Weber in einem Interview gefordert, in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei "reinen Tisch" zu machen. Gegenüber dem Tagesspiegel bezeichnete der CSU-Politiker einen künftigen EU-Beitritt der Türkei gar als "eine Illusion". Nun schrieb Weber am Mittwoch auf dem Kurznachrichtendienst Twitter:
"Die Türkei entfernt sich immer weiter von Europa."
Es sei Zeit für ein Ende der Beitrittsverhandlungen. "Für uns als EPPGroup (Fraktion der Europäischen Volkspartei) ist klar, dass die Türkei nicht Mitglied der EU werden kann."
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