Am 2. Mai 2014 sind bei Zusammenstößen in der Innenstadt Odessas sechs Menschen gestorben – zwei Anhänger des Umsturzes auf dem Maidan und vier ihrer Gegner. Wenige Stunden später starben 42 Aktivisten des Odessaer Anti-Maidans bei der Belagerung des Gewerkschaftshauses – am Ort ihrer letzten Zuflucht. Seitdem werfen ihre Sympathisanten ukrainischen Nationalisten Lynchmord vor. Ihre Gegner sprechen von einem Unfall oder berechtigter Rache für angeblich vorangegangene Provokationen.
Seit mehreren Jahren ähnelt sich die Situation am Jahrestag des berüchtigten Pogroms immer wieder: Die Hinterbliebene gehen unter Polizeiaufsicht zum umzäunten Gewerkschaftshaus und legen im Gedenken an die Opfer Blumen nieder. Odessaer im Exil, einige Politiker oder Journalisten verurteilen das Verbrechen scharf und rufen die ukrainischen Behörden zur Aufklärung auf.
In seiner Stellungnahme zum siebten Jahrestag sprach das russische Außenministerium die internationalen Gremien über die Köpfe der ukrainischen Ermittlungsorgane hinweg direkt an. Es wies nur darauf hin, dass der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij, der seit zwei Jahren an der Macht ist, im Zuge seiner Wahlkampagne versprochen hatte, beim Verfahren "die Unvermeidbarkeit der Verantwortung und eine gerechte juristische Bestrafung" zu gewährleisten. Dies sei nicht geschehen:
"Die Täter der Odessa-Tragödie immer noch nicht bestraft worden und die Ermittlungen wurden auf Eis gelegt", stellte das Außenministerium fest.
Es wies auf den Versuch des Europarats hin, in den Jahren 2014 und 2015 auf die Untersuchung einzuwirken. Doch danach seien diese ohnehin fruchtlosen Versuche zum Erliegen gekommen. Das russische Außenministerium machte deutlich:
"Die Führung und die Strukturen des Europarates, der sich selbst als führende Menschenrechtsorganisation positioniert, verschließen die Augen vor den mangelnden Fortschritten bei den Ermittlungen und der Rechtsprechung gegen die Organisatoren des Massenmordes auf dem Maidan und in Odessa. Diese Passivität untergräbt die Glaubwürdigkeit des Europarates und entwertet seine menschenrechtliche Glaubwürdigkeit bei anderen Themen."
Untätig sei im Zusammenhang mit den Morden in Odessa auch eine andere internationale Organisation – die OSZE. Sie habe angesichts ihrer Feldpräsenz in Odessa nicht übersehen können, was dort am 2. Mai geschah. "Wenn die Beobachter irgendwelche Informationen über dieses Verbrechen und den Verlauf oder, genauer gesagt, die Sabotage seiner Untersuchung haben, machen sie sie aus Gründen, die wir nicht verstehen, nicht öffentlich." Ähnlich sehe die Situation im Fall der "Maidan-Scharfschützen" aus, "zu denen in offenen Quellen bereits so viele Details aufgetaucht sind, dass sie für mehrere OSZE-Berichte ausreichen würden".
Zum Schluss nannte das Außenministerium den Massenmord "das Massaker" und forderte den Europarat, die OSZE und andere relevante internationale Gremien "erneut" auf, "sicherzustellen, dass Kiew eine ehrliche und unparteiische Untersuchung dieser Massenverbrechen in voller Übereinstimmung mit den internationalen Verpflichtungen der Ukraine durchführt".
"Es fehlt politischer Wille"
Eine der internationalen Organisationen, die die verschleppte Untersuchung in regelmäßigen Abständen kritisiert, ist die Beobachtungsmission für Menschenrechte der Vereinten Nationen in der Ukraine. "Die polizeilichen Ermittlungen zu den Unruhen waren selektiv und voreingenommen", schrieb sie in entsprechenden Stellungnahmen in den Jahren 2019 und 2020. In diesem Jahr hatte die Chefin der Beobachtungsmission Matilda Bogner diesem Thema einen ganzen Artikel gewidmet, der in der Ukrainskaja Prawda veröffentlicht wurde.
In dem Artikel ging sie noch mal auf den Verlauf der Geschehnisse ein und nannte die zwei Parteien des Konflikts jeweils "Anhänger der ukrainischen Einheit" und "Anhänger der Föderalisierung". Sie stellte fest: "Auf dem Platz (auch Kulikowo-Feld genannt – Anm. der Red.) angekommen, zerstörten die 'Anhänger der Einheit' das Zeltlager der 'Anhänger der Föderalisierung', die sich im Haus der Gewerkschaften verbarrikadiert hatten." Sie betonte, dass die Polizei dabei untätig geblieben und die Feuerwehr zu spät zur Löschung des Brandes eingetroffen war.
"Zum Zeitpunkt ihres Eintreffens, etwa 45 Minuten nach dem ersten Anruf, waren 42 Menschen – 34 Männer, sieben Frauen und ein Minderjähriger – tot."
In ihrem Artikel machte die UN-Vertreterin keiner Seite des Konflikts Vorwürfe, kritisierte aber, dass für eine ehrliche Aufklärung der politische Wille fehle. Außerdem würden Richter, Anwälte und Hinterbliebene ständig von radikalen Kräften eingeschüchtert.
"Rechtsanwälten und Angehörigen von Opfern muss ein ausreichendes Maß an Sicherheit, auch in den Gerichtssälen, geschaffen werden, um eine effektive Prozessführung zu gewährleisten", so Bonner. Am Ende rief sie die ukrainischen Behörden wieder zur lückenlosen Aufklärung des Verbrechens auf.
"Der siebte Jahrestag ist eine Gelegenheit für die Behörden, entscheidende Schritte in Bezug auf die Rechenschaftspflicht für die Ereignisse vom 2. Mai 2014 zu unternehmen und zu zeigen, dass die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine ein Leitprinzip und kein selektives, von politischen Positionen abhängiges System ist."
Video zum Thema - Dokumentarfilm "Remember Odessa": Interview mit Regisseur Wilhelm Domke-Schulz (Video)