Am Donnerstag entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass Pflichtimpfungen legal und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein können. Das Urteil bezog sich zwar auf einen Fall, in dem tschechische Familien wegen der Pflichtimpfungen für Kinder vor Gericht gezogen waren. Allerdings glauben Experten, dass das Urteil in Zukunft auch Auswirkungen auf die Impfungen gegen COVID-19 haben könnte. In den einzelnen EU-Ländern sind die Regelungen zu den bisherigen obligatorischen Impfungen gegen Krankheiten wie Masern oder Polio recht unterschiedlich. Ob eine Impfpflicht die generelle Bereitschaft zu Impfungen erhöht, ist allerdings fragwürdig.
In Frankreich waren beispielsweise bis zum Jahr 2018 nur Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Kinderlähmung vorgeschrieben. Doch dann beschloss Frankreichs Regierung, die Zahl der Krankheiten, gegen die Kinder geimpft werden müssen, auf elf zu erhöhen. Dennoch gibt es in Frankreich die meisten Impfskeptiker Westeuropas: Laut einer Umfrage der britischen Stiftung Wellcome Trust aus dem Jahr 2018 stuften mehr als 33 Prozent der französischen Bevölkerung Impfungen als unsicher ein. Und auch bei den derzeitigen Corona-Impfungen zeigen sich die Franzosen skeptisch: Weniger als die Hälfte von Frankreichs Bevölkerung will sich an den Massenimpfungen gegen Corona beteiligen.
Die Gründe dafür finden sich in einer Reihe von medizinischen Skandalen in Frankreichs Vergangenheit: In den 80ern wurden beispielsweise massenhaft Patienten durch kontaminierte Blutkonserven mit HIV infiziert. Später wurde der französische Pharmariese Servier gerichtlich zur Verantwortung gezogen, weil er mit dem Medikament Mediator wissentlich ein Mittel vertrieb, das zum Tod von 2.100 Menschen führte. Auch beim Ausbruch der Schweinegrippe im Jahr 2009 bestellte das französische Gesundheitsministerium 70 Millionen überzählige Impfdosen. Bei vielen Franzosen entstand dadurch der Eindruck, dass man damit vor allem Steuergelder in Richtung der Pharmaindustrie umverteilen wollte.
In Schweden ist die Impfbereitschaft auch ohne Impfzwang in Bezug auf Krankheiten wie Masern recht hoch, etwa 95 Prozent erhielten die empfohlenen zwei Impfungen. Dennoch ist man im skandinavischen Land skeptisch gegenüber Corona-Impfungen. Die Gründe dafür liegen – ähnlich wie in Frankreich – in medizinischen Skandalen der Vergangenheit: In den Jahren 2009 und 2010 rief die schwedische Regierung die Bevölkerung dazu auf, sich gegen die Schweinegrippe impfen zu lassen. Doch die Impfkampagne wurde zum Desaster: Viele Kinder und Erwachsenen unter 30 vertrugen den Impfstoff des britischen Pharmakonzerns GlaxoSmithKline nicht, 720 Personen - darunter zahlreiche Kinder – erkrankten infolge der Impfung an Narkolepsie.
Sowohl in Tschechien als auch in der Slowakei gibt es eine Impfpflicht, doch die Skepsis gegen Corona-Impfungen ist groß: Nach einer Umfrage der slowakischen Akademie der Wissenschaften von diesem Januar liegt die Ablehnung in beiden Ländern bei etwa 45 Prozent. Ein Drittel der Befragten gab außerdem an, dass sie COVID-19 nicht schlimmer einschätzen als eine Grippe und die "Pandemie" nichts weiter als ein Teil eines weltweiten Bemühens um eine verpflichtende Impfung sei. Fast 39 Prozent gaben zudem an, dass die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Corona absichtlich überhöht werde.
In osteuropäischen Ländern gibt es auch Fälle, in denen eine Impfpflicht scheinbar funktioniert und zu einem hohen Anteil an Personen führt, die gegen Krankheiten wie Masern geimpft sind – allerdings ist diese dann auch mit harten Strafen gegen "Impfunwillige" verknüpft: In Ungarn gibt es seit 1998 eine Impfpflicht für mehrere Krankheiten. Wenn Kinder in den Kindergarten oder in die Schule kommen, sind die Ärzte verpflichtet, den Impfstatus des Kindes zu überprüfen und fehlende Impfungen nachzuholen. Falls sich die Eltern weigern, muss der Schulleiter dies der Gesundheitsbehörde melden. Im Extremfall kann es zu Bußgeldern und dem Schulausschluss des Kindes führen. Die Folge dieses Vorgehens: Laut UNICEF waren im Jahr 2016 99 Prozent aller Kinder gegen Keuchhusten, Polio, Tetanus und weitere Krankheiten geimpft.
Allerdings ist auch bekannt, dass ein solcher Zwang das generelle Misstrauen in Impfstoffe Misstrauen fördern kann: In einer Umfrage in mehreren europäischen Ländern aus dem Jahr 2016 äußerten Bürger aus Ländern, in denen eine Impfpflicht existiert, die meisten Zweifel an der Sicherheit von Impfstoffen. In Bulgarien schätzen nur 66 Prozent der Befragten Impfungen als sicher ein, in Lettland waren es 68 Prozent. In Ländern ohne Impfzwang wie Portugal oder Spanien waren es 95 beziehungsweise 92 Prozent.
Außerdem ist bekannt, dass eine Pflicht für bestimmte Impfungen auch das Misstrauen in Impfungen gegen andere Krankheiten steigern kann. Eine deutsche Studie aus dem Jahr 2016 kommt zu dem Ergebnis, dass eine Zwangsimpfung die Bereitschaft, sich impfen zu lassen, im Gegensatz zu einer freiwilligen Impfung enorm senken kann. Bei Personen, die Impfungen bereits vorher mit Skepsis begegnet waren, führte dies bei einer freiwilligen zweiten Impfung zu einem Rückgang der Impfrate um 39 Prozent. Bei einer freiwilligen Impfung war dies nicht der Fall. Das Vertrauen kann dadurch auch so sehr geschwächt werden, dass Personen auf weitere, empfohlene Impfungen verzichten:
"Wenn also ausgewählte Impfungen verpflichtend gemacht werden, ist es wahrscheinlich, dass die Akzeptanz dieses speziellen Impfstoffs erhöht wird. Der Gesamteffekt auf die Impfstoffaufnahme in einer Gesellschaft – oder in einem kleineren Rahmen wie einem Krankenhaus – kann jedoch negativ sein."
In der Bundesrepublik wird auch immer wieder über die "Impfpflicht durch die Hintertür" diskutiert, die in "Privilegien" oder in der vorgezogenen Rückkehr zum Normalzustand und der Wiedererlangung der Grundrechte für Geimpfte bestehen kann. Doch auch dies muss nicht zwangsläufig zu einer Erhöhung der Impfbereitschaft führen, sondern kann diese tendenziell sogar senken. In einem Experiment der Universität Erfurt wurde festgestellt, dass sich die Impfbereitschaft zwar erhöhen ließ, wenn man den Teilnehmern 1.000 Euro aus Bundesmitteln für die Impfung in Aussicht stellte.
Doch wenn den Probanden im Falle eines "positiven Framings" in Aussicht gestellt wurde, dass sie durch einen Immunitätsnachweis nach der Impfung "zusätzliche Freiheiten" wie mögliche Restaurant- und Kulturbesuche gewännen, hatte dies kaum Auswirkungen auf die Impfbereitschaft – sie sank tendenziell sogar. Dasselbe war der Fall für die Aussicht auf wiedergewonnene Grundrechte nach der Impfung im Falle eines "negativen Framings".
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