von Wladislaw Sankin
Olena Semenjaka ist die ehemalige Pressesprecherin der ukrainischen paramilitärischen Organisation "Rechter Sektor" und die Sekretärin für internationale Beziehungen einer weiteren rechtsextremen Partei "Nationaler Korps" (ehemals "Asow-Regiment"). In der Partei ist sie auch das einzige weibliche Mitglied des Obersten Rates. Außerdem ist sie die Koordinatorin der paneuropäischen Reconquista-Bewegung mit Sitz in Kiew. Olena Semenjaka veranstaltet regelmäßig Konferenzen und ist in der internationalen rechtsextremen Szene gut bekannt.
Die 33-Jährige ist aber nicht nur reine Aktivistin, sondern politische Philosophin mit einem soliden akademischen Hintergrund. Ihre wissenschaftliche Laufbahn begann im Jahr 2010 an der Kiewer Mogila-Universität und wurde später nach dem Maidan auf Sparflamme gehalten. Intellektuell war sie dennoch sehr aktiv. Auf ihrer Homepage führt Semenjaka Dutzende Aufsätze in russischer und ukrainischer Sprache auf. Die George Washington University nannte Olena Semenjaka "First Lady" des ukrainischen Nationalismus und widmete ihr im September eine ganze Studie, die sie in eine Reihe mit Alexander Dugin und Steve Bannon setzte:
"Semenjakas wachsender Einfluss und ihre internationalen Verbindungen machen sie zu einer wichtigen intellektuellen Mitgestalterin der neuen paneuropäischen Identitären Landschaft, ähnlich wie der eher medial exponierte Alexander Dugin in Russland oder Steve Bannon in den USA."
Ihre politische Theorie, die irgendwo zwischen konservativem Traditionalismus und Ultranationalismus angesiedelt ist, soll in rechtsextremen Kreisen in der Ukraine nach dem Jahr des Maidans 2014 an Beliebtheit gewonnen haben. Der internationale Einfluss der rechten Vordenkerin ist auch seit langem Gegenstand der geheimdienstlichen Beobachtung. Laut dem britischen "Recherchenetzwerk" Bellingcat stand Semenjaka vor zwei Jahren sogar im Zentrum eines FBI-Berichts.
Im Rahmen der "Reconquista-Bewegung" pflegt Semenjaka auch Kontakte mit den Vertretern der deutschen Neonaziszene. Auf einer "Pact of Steel"-Konferenz in Kiew Ende 2018 saß sie im Podium mit Hendrik Möbus, dem Frontman der Pagan-Metalband "Absurd". Möbus ist kein Unbekannter – er ist Mittäter in einem Mordfall und galt noch vor zwanzig Jahren als "einer der bekanntesten Neonazis Deutschlands".
Nun ist ihr Name in Österreich der Gegenstand eines politischen Skandals. Das Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) vergab der Ukrainerin ein Forschungsstipendium im Rahmen des Programms "Ukraine in European Dialogue" und gab dies auf seiner Webseite bekannt. Laut Ankündigung sollte sie sich von Januar bis Juni 2021 als "Junior visiting Fellow" am IWM mit Jan Patocka, Ernst Jünger und "Europa nach der Ukraine" beschäftigen. Laut ukrainischen Medien zahlt das IWM an die Postgraduate-Forscher 1.800 Euro samt Reise- und Unterkunftskosten.
Das Bild der neuen Institutsmitarbeiterin blieb aber nicht lange auf der Webseite des Instituts. Am 11. Januar gab das Institut bekannt, dass es ihr das Stipendium "mit sofortiger Wirkung" aberkennt. Die Seite der neuen Forscherin wurde gelöscht. In einer Mitteilung begründete das IWM seine Entscheidung wie folgt:
"Die Vergabe eines 'Ukraine in European Dialogue Junior Fellowship' an Frau Olena Semenyaka stand im Widerspruch zu dessen Grundwerten. Ihr Engagement in rechtsextremen Gruppen, die darauf abzielen, Hass zu verbreiten, zu Gewalt aufzurufen und unsere Gesellschaft zu spalten, entspricht nicht dem Auftrag des Fellowship-Programms oder des Instituts."
Die Kenntnisse über die "rechtsextreme Umtriebe" von Olena Semenjaka habe das Institut dank der "aufmerksamen Intervention der ukrainischen Forschungsgemeinschaft, von Aktivisten, Journalisten und Alumni" erworben.
Im Nachhinein ist es jedoch schwer zu sagen, wer im Fall Semenjaka der erste "Hinweisgeber" war. Bekannte und international vernetzte ukrainische Forscher wie Eduard Dolinsky oder Ivan Katchanovski machten erst am 11. Januar auf Facebook auf den Vorfall aufmerksam. Was sich aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen lässt, ist, was der "Auslöser" für die ganze Debatte gewesen sein könnte.
Es handelt sich um ein Foto, das Olena Semenjaka mit einem "Hitlergruß" vor einer Fahne mit Hakenkreuz zeigt. Es sollte aus dem Jahr 2014 oder früher stammen. Später behauptete sie, das Bild sei ein ironisches Halloween-Foto, welches die Kreml-Behauptungen, dass ukrainische Nationalisten Neonazis seien, verspotten sollte.
Aus der österreichischen Politik reagierten vor allem die Grünen auf den Skandal und forderten die "Stornierung des Stipendiums". Die Wissenschaftssprecherin der Grünen im österreichischen Nationalrat, Eva Blimlinger, sagte:
"Es kann nicht sein, dass Personen, die zum Führungsteam des politischen Arms der rechtsextremen 'Asow-Bewegung' gehören und diesen mittragen, in Österreich Stipendien bekommen, die mit Steuergeld finanziert werden."
Das IWM wurde 1982 vom polnischen Philosophen Krzysztof Michalski gegründet. Nach eigenen Angaben fördert es seitdem den "geistigen Austausch zwischen Ost und West, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sowie zwischen einer Vielzahl von Disziplinen und Denkrichtungen". Das Institut erhält Fördermittel von der österreichischen Bundesregierung und der Gemeinde Wien. Seine Projekte und Veranstaltungen werden von Stiftungen und anderen Sponsoren unterstützt.
Es liegt bereits die Reaktion der gekündigten Stipendiatin vor. Auf einer Anfrage von Vice World News bestritt Semenjaka, eine rechtsextreme Aktivistin zu sein. Sie sagte, dass sie versucht habe, Solidarität gegen die russische Aggression in Europa aufzubauen. Sie wies auf eine bewusste Kampagne gegen sie hin. Sie sagte:
"Ich verstehe, dass sich das IWM in erster Linie um seinen Ruf und seine akademische Verantwortung kümmern muss, und da mein Informationsangebot schwächer ist als das derer, die mich bewusst oder unwissentlich des rechtsextremen Aktivismus beschuldigen, könnte mein Aufenthalt am Institut seinem guten Namen schaden."
Nach dem Skandal stellt sich jedoch die Frage, ob nur das Bild mit dem "Hitlergruß" die rote Linie für das interdisziplinäre Wiener Institut war. Die Institutsleitung gibt an, vorher nichts über die Arbeit ihrer Stipendiatin in den rechten Netzwerken gewusst zu haben. In ihrer Erklärung heißt es:
"Das IWM unternimmt alles, um zu überprüfen, warum ihre politische Aktivität in einschlägigen rechtsextremen Kreisen der Aufmerksamkeit der für die Auswahl zuständigen Jury entgangen ist."
Aber dass die IWM-Jury gänzlich von den Aktivitäten der weit über die Grenzen der Ukraine hinaus bekannten ukrainischen rechtsextremen Intellektuellen nichts gewusst haben soll, ist schwer zu glauben. Zwar ist nicht bekannt, welche Forscher der Jury angehören. Bekannt ist allerdings, welche Einstellung zum ukrainischen Nationalismus einer der maßgeblichen Forscher des Instituts hat. Denn der US-Professor und Autor zahlreicher Bücher Timothy Snyder ist für das Ukraine-Projekt des Instituts verantwortlich, das den Namen "Ukraine, Russia and the Future of the West" trägt.
Snyder, ein in Deutschland vielfach hochgelobter Historiker, spielt in seinen Artikeln und Auftritten den Einfluss und die Bedeutung der ukrainischen Nationalisten konsequent herunter. So schreibt er den von ihm angezweifelten Mythos über die "faschistische Ukraine" vielmehr einer angeblichen "russischen Propaganda" zu. Ähnlich argumentiert auch der Politikwissenschaftler Anton Schechowzow. Er ist ehemaliger Gastforscher des Instituts und ist neben Snyder zu einem oft zitierten Experten im deutschsprachigen Raum aufgestiegen.
In einem Facebookbeitrag weist er vielsagend darauf hin, dass RT (er bezieht sich dabei auf diesen RT-Artikel) und "Kreml-Agenten" den Skandal thematisieren:
"Ich verstehe, dass das zu esoterisch ist, aber trotzdem. An diejenigen, die die heutige Stornierung des Stipendiums einer ukrainischen Studentin am IWM applaudieren: nehmen Sie dies zur Kenntnis: von Putins Medium RT und tatsächlichen Pro-Kreml-Agenten des Einflusses (Anatoliy Shariy/Ivan Katchanovski)"
In den Kommentaren zu seinem Posting nahm er Frau Semenjaka in Schutz vor der Kritik. Die Ablehnung der Stipendiatin sei "zutiefst unliberal" und stellt eine sogenannte "cancel culture" dar. Sie habe ihr Stipendium im fairen Wettbewerb gewonnen und dieses würde ihr aus politischen Gründen entzogen:
"Das stellt einen Akt der Diskriminierung und einen Verstoß gegen die UN-Menschenrechtserklärung dar", so Schechowzow.
Der Hinweis auf Menschenrechte im Zusammenhang mit einer Funktionärin des National Corps – einer Organisation, die Menschenrechte durch die Teilnahme ihrer Aktivisten am Bürgerkrieg und Übergriffen auf Andersdenkende, feindliche Übernahmen der Kirchen und Säen von Hass-Propaganda regelmäßig verletzt, ist allerdings befremdlich und weist auf einen grundlegenden Widerspruch hin.
National Corps und zahlreiche andere nationalistische Organisationen bekommen von der ukrainischen Regierung erhebliche Fördermittel für ihre Jugendarbeit. Auch die explizit antirussisch ausgerichtete geopolitische Intermarium-Theorie der Reconquista-Bewegung spiegelt sich deutlich in den Bemühungen der ukrainischen Diplomatie wider. Außerdem stimmt die Ukraine seit Jahren als einziges europäisches Land gegen die UN-Resolution, welche den Neonazismus verurteilt. Dessen ungeachtet bleibt die ukrainische Regierung in den Augen ihrer Partner in den EU-Staaten als "werter Partner" hoffähig.
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