In Frankreich wächst der Ärger über den extrem langsamen Impfstart im Kampf gegen das Coronavirus. Es handle sich um einen "Staatsskandal", sagte der Präsident der an Deutschland grenzenden Region Grand Est, Jean Rottner, dem Sender France 2 am Montag. "Alles wird von Paris aus entschieden", monierte er. Die Regionen würden nicht richtig eingebunden. Sich impfen zu lassen, sei komplizierter als der Kauf eines Autos. Die Region Grand Est ist schwer von der COVID-19-Pandemie getroffen.
Der grüne Europa-Abgeordnete Yannick Jadot bezeichnete den Impfstart als "Fiasko". "Frankreich hat die gleiche Anzahl von Dosen pro Million Einwohner wie Deutschland", schrieb er auf Twitter. Wenn man sie verspätet einsetze, sei das die Schuld von Präsident Emmanuel Macron.
Die Regierungsvertreter sehen bislang keinen Grund für Kritik. Die Ministerin für Hochschulbildung, Forschung und Innovation Frédérique Vidal sagte, Frankreich sei bei der Impfung gegen COVID-19 "nicht spät dran", sondern warte auf andere Impfstoffe. Sie versicherte, dass die Regierung "die Entscheidung getroffen hat, Impfstoffe zu verwenden und vorzubereiten, deren Verbreitung breiter sein könnte als die derzeitigen Impfstoffe".
Die Ministerin bezog sich wahrscheinlich auf den COVID-19-Impfstoff der französischen Sanofi-Gruppe, der eine andere Technologie verwendet als der derzeit in Frankreich eingesetzte Boten-RNA-Impfstoff von Pfizer/BioNTech. Nach eigenen Angaben des Konzerns wird dieser Impfstoff jedoch voraussichtlich erst 2021 verfügbar sein.
Auch die Präsidentin der französischen Behörde für Gesundheitsfragen Dominique Le Guludec verteidigte das Vorgehen der Regierung. "Unser Hauptziel ist es, die Zahl der Todesfälle zu reduzieren und die Zahl der Krankenhausaufenthalte zu verringern", sagte sie dem Sender BFM TV. Deshalb würden zuerst die Älteren vor Ort in den Heimen geimpft – man wolle sie nicht in Impfzentren schicken, um dort Schlange zu stehen.
Allerdings ist dies eine Ansicht, die weder von vielen Experten noch vom Staatsoberhaupt selbst geteilt zu werden scheint. So sagte Emmanuel Macron während seiner Grußworte an die Franzosen am 31. Dezember über die Impfung gegen COVID, dass er "auch nicht zulassen [wird], dass aus den falschen Gründen eine ungerechtfertigte Langsamkeit einsetzt".
Laut der Wochenzeitung Le Journal du Dimanche befindet sich Frankreich "auf einem Familienspaziergang". So soll zumindest Macron das Impftempo bei den Gesprächen unter Ausschluss der Öffentlichkeit bezeichnet haben. "Es muss sich schnell und stark ändern, und es wird sich schnell und stark ändern." Macron sei irritiert von Bürokratie und Technokratie, die er als pingelig empfindet.
Auch die National Academy of Medicine bedauerte am 31. Dezember den "sehr langsamen" Start der Impfkampagne gegen COVID-19 und beurteilte die getroffenen Vorsichtsmaßnahmen als "überzogen". Die Institution ist der Ansicht, dass die bisherige französische Bilanz im Vergleich zu anderen europäischen Ländern "schwer zu verteidigen" ist. Am 30. Dezember bezeichnete Professor Alain Fischer, Vorsitzender des französischen Rates für die Ausrichtung der Impfstrategie, auf France 2 die Ende Dezember begonnene Impfung als "symbolisch".
Der Webseite "COVID Tracker" zufolge wurden seit Impfstart vor gut einer Woche bis Sonntag mehr als 500 Menschen geimpft. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine offizielle Seite der Regierung, der Betreiber erhält die Zahlen eigenen Angaben nach von den Gesundheitsbehörden. Gesundheitsminister Olivier Véran sagte beim Besuch eines Pariser Krankenhauses am Montagnachmittag, dass im Laufe des Tages mehrere Tausend Menschen geimpft worden seien, er nannte aber keine genaue Zahl. In vielen Einrichtungen begann mittlerweile die Impfung von älterem Pflegepersonal. Konkrete Zahlen sollten nun am Dienstag veröffentlicht werden.
Der Arzt, Unternehmer und Publizist Dr. Laurent Alexandre schrieb auf Twitter, dass "Frankreich sich selten so lächerlich gemacht hat" im Vergleich zu anderen Ländern, die mit der Impfung gegen COVID-19 begannen, und dass der Präsident "rudern muss". Später bezeichnete er es als "unglaublich, dass das Ministerium die Zahl der geimpften Franzosen nicht kennt" und bezog sich dabei auf fehlende Daten für den 31. Dezember und den 1. Januar. Er war auch der Meinung, dass Vidal "das Unvertretbare rechtfertigt" und dass sie "besser dran gewesen wäre, den Mund zu halten".
Wie auch immer, die Kluft zwischen Frankreich und den Ländern, die bereits mit der Impfung gegen COVID-19 begannen, wird immer größer: Laut Our World in Data waren am 31. Dezember nur 352 Personen in Frankreich geimpft, im Vergleich zu mehr als 950.000 in Großbritannien (944.539 am 27. Dezember) oder 72.397 (am 2. Januar) in Italien, zwei Ländern mit einer mit Frankreich vergleichbaren Bevölkerung. Berichten zufolge wurden weltweit bereits fast 11,5 Millionen Menschen gegen COVID-19 geimpft, wobei Israel den Rekord für die höchste Impfrate im Verhältnis zur Einwohnerzahl hält (1,09 Millionen Geimpfte auf 8,9 Millionen Einwohner).
Die Impfkampagne gegen COVID-19 begann in Frankreich am 27. Dezember, zunächst beschränkt auf Einrichtungen für ältere Menschen (EHPAD). Laut der französischen Krankenversicherung l'Assurance Maladie soll der Geltungsbereich ab Ende Februar/Anfang März 2021 auf fast 14 Millionen Menschen ausgeweitet werden, die einen altersbedingten Risikofaktor oder eine chronische Erkrankung aufweisen, um schließlich ab Frühjahr 2021 die Impfung für die gesamte Bevölkerung zu öffnen. Die französische Regierung hat sich das Ziel gesetzt, "15 Millionen Impfungen bis zum Sommer" durchzuführen.
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(rt/dpa)