Der ukrainische Ex-Premierminister Nikolai Asarow musste mit seiner Familie am 22. Februar 2014 aus Kiew fliehen. An diesem Tag übernahmen bewaffnete Formationen der sogenannten Maidan-Selbstverteidigung die ukrainische Hauptstadt. Später erzählte Asarow, dass auf das Auto seiner Frau bei einer Verfolgungsjagd geschossen wurde.
Das Exil hat der Ex-Premier, der sein Amt noch im Januar auf Drängen der Protestierenden niederlegen musste, in Moskau gefunden. Am 5. März 2014 verhängte der Rat der Europäischen Union Sanktionen gegen Asarow, den Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch und zahlreiche andere Beamte aus seiner Regierung. Zu den Einschränkungsmaßnahmen gehörten unter anderem das Einfrieren der Konten und Einreiseverbote. Doch der moralische Schaden durch die Sanktionen war fast noch wichtiger.
Grundlage für die Sanktionen war, wie sich nun herausstellte, nur ein einziges Schreiben der postmaidanen Generalstaatsanwaltschaft mit einer Liste der zu sanktionierenden Personen aus Kiew. Zu dem Moment gab es gegen den Ex-Premier in der Ukraine kein einziges Strafverfahren. Spätere Versuche, strafrechtliche Gründe für die Sanktionen zu finden, scheiterten. Der EU-Rat ist die höchste Ebene der politischen Zusammenarbeit zwischen den EU-Ländern. Mit dieser Entscheidung handelte der EU-Rat also auf Ersuchen eines Drittstaates, der sich zudem im Zustand einer revolutionären Umwälzung nach einem gewaltsamen Staatsstreich befand.
Asarow engagierte sofort eine Wiener Anwaltskanzlei, die die Sanktionen beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anfechten sollte. Nun, nach mehr als sechs Jahren Kampf fällte das Gericht am 16. Dezember ein Urteil, das die Sanktionspraxis der letzten Jahre in der EU erschüttern soll. So sieht das zumindest Asarows Anwalt Gabriel Lansky.
"Es gab und gibt keine Vorwürfe gegen Asarow, es gab keine Korruption, keine Menschenrechtsverletzungen von ihm, es darf ihm nichts vorgeworfen werden", sagte er zusammenfassend auf einer Pressekonferenz am 29. Dezember.
Was haben die Anwälte beim Gericht bewirkt? Es stellte in seinem Urteil fest, dass der EU-Rat am 4. März 2014 einen "offensichtlichen Beurteilungsfehler" begangen und sich blind auf die ukrainische Staatsanwaltschaft verlassen habe. Damit habe der Rat seine "Prüfungspflichten verletzt". Er habe z. B. nicht geprüft, ob Herrn Asarow seine Verteidigungsrechte und ein effektiver gerichtlicher Rechtschutz in der Ukraine gewährt wurden.
Der Beschluss des EU-Rates vom 4. März 2019, wonach die Sanktionen gegen Asarow zum wiederholten Mal für ein Jahr verlängert wurden, sei daher nichtig, entschied der EuGH in Luxemburg. Das Urteil wurde auf der Webseite des Gerichtes veröffentlicht.
In seinem Urteil greift der EuGH auch die ukrainische postmaidane Justiz scharf an. Sämtliche Maßnahmen der Generalstaatsanwaltschaft seien ohne Rechtsgrundlage erfolgt. Während der Ermittlungen gegen Asarow seien grobe Verstöße begangen worden. Außerdem sei nicht klar, auf welche Verfahren sich der Rat gestützt habe.
"Die Sanktionen erfolgten deswegen, weil das Poroschenko-Regime behauptet hat, es gebe Verbrechen vonseiten Asarows. So war das nicht. (…) Die EU hat die Regierung Poroschenko unter Prämisse unterstützt, dass in der Ukraine ein Rechtsstaat errichtet wird", so Lansky.
In seinem Live-Auftritt geht der Wiener Anwalt nicht nur mit der ukrainischen "postrevolutionären" Justiz hart ins Gericht. Auch die EU kritisiert er scharf. Die Sanktionen seien Ausdruck von politischer Willkür. Die EU-Sanktionen machten den gesamten Raum der Europäischen Union vogelfrei und rechtslos.
"Der Rat der EU ist kein Wirtshausbetrieb, in dem ein Drittstaat Sanktionen bestellen kann. Der Beschluss ist Sieg über politische Willkür. Die EU muss sicherstellen, dass ihre eigenen Werte eingehalten werden. Das ist die menschenrechtliche Bedeutung des Verfahrens", sagte Lansky.
Da nun das Urteil Teil des EU-Rechts sei, habe der Beschluss bahnbrechende, historische Bedeutung. Der Anwalt des Ex-Präsidenten Wiktor Janukowitsch, Witalij Serdjuk, sieht darin einen Präzedenz-Fall für die künftige Rehabilitierung politisch Verfolgter in der Ukraine. "Das Urteil macht klar, dass diejenigen, die im Jahre 2014 rechtswidrig an die Macht gekommen sind, ihre Opponenten politisch verfolgten", sagte er im ukrainischen Fernsehen.
Auch der Kläger Nikolai Asarow trat bei der Video-Schaltung auf. Er merkte an, dass die Anwälte ihn anfangs mit Unvertrauen begegneten: "Die Propaganda hat ihre Sache getan. Es bedürfte Berge von Dokumenten, um meine Unschuld zu beweisen."
"Das Gericht hat im Wesentlichen anerkannt, dass in der Ukraine kein rechtsstaatliches System vorliegt", sagte Asarow.
Früher oder später werde dieses politische System, das von Poroschenko ins Leben gerufen wurde, zusammenbrechen, prophezeite er.
Der jetzt 73-Jährige war knapp vier Jahre als Premier-Minister tätig – von März 2010 bis Januar 2014. Von allen ukrainischen Exil-Politikern genießt der Ex-Wirtschafsprofessor und langjährige Rada-Abgeordnete der Partei der Regionen wahrscheinlich das höchste Ansehen in der Ukraine, zumindest bei den ehemaligen Janukowitsch-Wählern. Er schreibt Bücher, gibt Interviews und tritt aus der Ferne im Fernsehen auf. Zu seiner möglichen Rückkehr sagte er, es sei noch zu früh, in die Ukraine zurückzukehren, da die Verfahren gegen ihn noch nicht eingestellt sind.
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In der Ukraine haben vor allem maidan-kritische Kräfte das Urteil begrüßt. Der Politikwissenschaftler Ruslan Bortnik merkte an, dass es bei diesen Sanktionen nicht um die Suche nach Gerechtigkeit ging, sondern darum, Funktionäre aus Janukowitschs Umfeld von der Möglichkeit der Einflussnahme auf Prozesse in der Ukraine zu isolieren.
"Es war ein politisches Werkzeug, kein juristisches. Die Leute wurden bestraft, ohne dass ein Gerichtsurteil vorlag, dass sie sich etwas zuschulden kommen ließen. Und all dies wirft ein großes Fragezeichen hinter die Demokratie und die Achtung des Rechts in Europa selbst", sagte er im Gespräch mit dem Internetportal strana.ua.
Wird das Urteil eine Wende in der Europäischen Union bewirken? Darauf hofft zumindest das Anwaltsteam, das den ukrainischen Ex-Premier all die Jahre vertreten hat. Dies sei nicht das erste derartige Urteil, dennoch müsste ausgerechnet dieses Urteil eine Wende einläuten. Denn der Europäische Gerichtshof sei früher im Bereich der Sanktionen sehr zurückhaltend gegenüber den anderen EU-Machtorganen gewesen, stellte Alexander Egger, einer der Anwälte fest.
"Die (Europäische) Kommission versteht sich geopolitisch. Dieses Urteil bedeutet weniger Politik, mehr Recht. Dass auch die auswärtige Politik nicht vom Rechtsrahmen ausgenommen ist und das es nicht um Copy-Paste geht", sagte er.
Quelle: Pressekonferenz von Nikolai Asarow und seinem Anwaltsteam: