Die sogenannte transatlantische Partnerschaft, auf die ein Großteil der EU-Mitgliedsstaaten traditionell setzt, hat seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten spürbare Risse erfahren. Im Glauben daran, dass Joe Biden der neue US-Präsident sein werde, möchte man das Verhältnis zum westlichen Hegemon nun wieder intensivieren. Dazu soll es auf dem bevorstehenden Treffen des Europäischen Rates – also der Versammlung der Staats- und Regierungschefs der EU – im Dezember in Brüssel erstmals eine strategische Debatte geben. Gleichzeitig sehe man aber auch die Notwendigkeit, die EU stärker und autonomer zu machen, wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) unter Berufung auf Diplomatenkreise berichtet.
In einem Diskussionspapier schlägt EU-Ratspräsident Charles Michel fünf Schwerpunkte für eine engere Zusammenarbeit mit den USA vor: Handel, Corona, Klimaschutz, Multilateralismus und Friedenssicherung. Michel wirbt für ein rasches Ende des Handelsstreits bzw. der gegenseitigen Strafzölle. So solle man den USA stattdessen eine "positive Handelsagenda" anbieten, wie es in dem Dokument nach Informationen der dpa heißt. Und in Sachen Corona hoffe man auf Unterstützung der USA für eine "gerechte globale Verteilung von Impfstoffen".
In der Außenpolitik strebe man ansonsten eine gemeinsame Linie gegenüber China, Russland, der Türkei, dem Iran und "weiteren Weltregionen" an. Auch habe man bei den Themen Terrorismus, Cybersicherheit und hybride Bedrohungen gemeinsame Interessen. Parallel werde ebenso mit der NATO nach einem passenden Termin für ein mögliches gemeinsames Treffen von Vertretern beider Organisationen gesucht.
Insgesamt scheint es sich bei der bevorstehenden Strategierunde also gewissermaßen um den Versuch zu handeln, zu "alten Verhältnissen" zurückzukehren. Doch bei diesem Ansinnen dürfte vor allem Wunschdenken die maßgebliche Rolle spielen. Denn die Welt hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Dies betrifft nicht nur das abgekühlte Verhältnis des Westens zu Russland, China oder der Türkei. Es betrifft in spürbar zunehmendem Maße auch die Umstände im Inneren. Noch wird versucht, den wachsenden Unmut signifikanter Teile der Bevölkerung zu ignorieren oder ihm gar mit Repression zu begegnen. Vor allem aber scheint man die entscheidende Variable in der eigenen Rechnung nicht klug zu bewerten: Was, wenn der neue US-Präsident am Ende doch wieder der alte ist?
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