"Wir müssen Brandmauer gegen Russland errichten": Tichanowskaja-Besuch in Berlin

Bei ihrem Berlin-Besuch traf sich die Ex-Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja nicht nur mit der Bundeskanzlerin. Zusammen mit deutschen Politikern und NGO-Vertretern besprach sie die Wege, wie man "das Lukaschenko-Regime" am besten stürzen kann.

von Wladislaw Sankin

Was die weißrussische Ex-Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja in den letzten vier Tagen absolvierte, ist beachtlich. Sie traf sich nicht nur mit der Bundeskanzlerin. Sie traf sich auch mit Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, mit der SPD-Führung und mit Außenminister Heiko Maas. Sie sprach per Videoschaltung mit dem französischen Parlament, besuchte den deutschen Bundestag und traf sich dort mit CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak. Sie traf sich mit der FDP-Führung: mit Christian Lindner und Alexander Graf Lambsdorff. Sie traf sich mit der gesamten Grünen-Spitze: Robert Habeck, Katrin Göring-Eckardt, Annalena Baerbock und Claudia Roth. Sie besuchte deutsche Partei-Stiftungen, traf symbolträchtig vor dem Brandenburger Tor auf und gab viele Interviews.

Laut dem Politologen Alexander Rahr ging es den deutschen Politikern vor allem darum, Signale für "liberale Werte" zu setzen. Und Tichanowskaja ging es darum, so viel Unterstützung wie möglich für ihren Kampf gegen den langjährigen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu bekommen: finanzielle Hilfe für die Opposition und deren Medien, Erweiterung der Sanktionen, die Lukaschenko und seine Regierung zum Einlenken bringen sollen. Trotz eines sehr warmen Empfangs in Berlin zeigten sich sowohl Kanzlerin Merkel als auch Kanzlerkandidat Scholz relativ zurückhaltend: ein gemeinsames Foto, auf dem sie neben Tichanowskaja ihre Gesichter zeigen, gab es nicht. Und: Im Unterschied zu Parteipolitikern sprachen sie sich offiziell nicht für Neuwahlen in Weißrussland aus.

Dass Neuwahlen nichts anderes als einen Regime-Change, also eine schnelle Ablösung Lukaschenkos und die Überführung des Landes in westliche Integrationsprojekte bedeuten, zeigte eindrücklich eine vom Thinktank Liberale Moderne (LibMod) organisierte Podiumsdiskussion mit Tichanowskaja. LibMod wurde von der grünen Politlobbyistin Marieluise Beck und ihrem Mann Ralf Fücks vor drei Jahren gegründet. Außer Tichanowskaja und Beck nahmen der SPD-Abgeordnete Nils Schmid, die Chefin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde Gabriele Freitag und der Chefredakteur der Zeitschrift Osteuropa Volker Weichsel als Moderator an der Diskussion teil.

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Moskau ausschließen, RT sanktionieren

Als der Moderator die als "belarussische Oppositionsführerin" vorgestellte Tichanowskaja fragte, ob sie Präsident Lukaschenko nach seiner Entmachtung Straffreiheit garantieren könne, bat sie ihren Berater namens Franek um Hilfe. Er nahm das Mikro und nutzte die Gelegenheit für einen langen und energischen Redebeitrag. Er ignorierte die Frage und kam sofort auf das Thema zu sprechen, das aus seiner Sicht das Wichtigste für die Anwesenden ist: das Verhältnis zu Russland.

Man muss es präventiv so machen, dass es für Russland teuer ist, Lukaschenko zu unterstützen. Man muss den Preis für die Einmischung in Minsk erhöhen. Weil Putin mit einem sehr geringen Preis seinen Einsatz auf dem internationalen Parkett erhöht. Deswegen müssen wir eine Brandmauer zwischen Minsk und Moskau errichten, damit es für Putin zu teuer wird, sich einzumischen", sagte er.

Dann redete Franek über Neuwahlen. Tichanowskaja schaffe "diesen Kanal", damit Neuwahlen durchgeführt werden können. Wenn nicht in den nächsten sechs Monaten Neuwahlen stattfinden, werde sich Weißrussland in eine Art Nordkorea, Krim oder Abchasien verwandeln. Er rief die Versammelten auf:

Man muss alles schnell machen, man muss Moskau ausschließen, so weit es geht, und man muss mit jedem Mittel jene Zivilgesellschaft, die parallele Infrastruktur der weißrussischen Gesellschaft unterstützen, die schon geschaffen worden ist.

Die Rede war konkret von finanzieller Unterstützung. Diese müsse direkt an die Opposition fließen, betonte Tichanowskajas Helfer, damit staatliche Stellen nicht von den EU-Zuwendungen profitieren. Zusätzlich müssten RT-Chefin Margarita Simonjan und überhaupt ganz RT wegen ihrer informationellen Beeinflussung mit Sanktionen belegt werden. Dann redete Franek über die weißrussische Staatlichkeit. Diese und die Wirtschaft müssten gerettet werden. "Wenn die Wirtschaft zusammenbricht, wenn es keinen Marshallplan gegeben wird, dann wird Russland durch Aufkauf der Staatsaktiva die Staatlichkeit Weißrusslands zerstören." An dieser Stelle nickten die Zuhörer – auch der Moderator und der SPD-Abgeordnete Schmid.

Man muss das machen. Weil in Weißrussland ganz coole IT-Leute gibt, sie werden neues Belarus aufbauen", schloss er ab.

Mastermind

Wer Franek ist, war nicht schwer zu ermitteln. International stellt sich der junge Mann als Franak Viačorka vor. Laut seinem Facebook-Profil ist der 32-Jährige Mitarbeiter des Atlantic Council und des US-Staatssenders Radio Liberty, Dozent des College of Europe in Warschau sowie Vizepräsident des NGO Digital Communication Network. Über Franzischak Wjatschorka – so wird sein polnisch klingender Name im Deutschen transkribiert – gibt es sogar einen ausführlichen deutschen Wikipedia-Eintrag. In der Öffentlichkeit agiert er wie ein inoffizieller Pressesprecher des Ex-Präsidentschaftskandidatin. In Wirklichkeit ist er wohl eher ihr politischer Betreuer, Mastermind und Ghostwriter in einer Person. Über sein Engagement für Tichanowskaja verliert Wikipedia kein Wort.

Trotz seines noch jungen Alters kann der Journalist auf eine fast zwanzigjährige Politkarriere zurückblicken. "Seit seiner Jugend engagiert sich Wjatschorka in der Oppositionsbewegung gegen den derzeitigen belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko", so Wikipedia. Politischer Aktivismus wurde ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt – sein Vater, Philologe und Aktivist für die Popularisierung der weißrussischen Sprache, leitete acht Jahre die stramm prowestliche und nationalkonservative Partija BNF (Abkürzung für "Belarussische Nationale Front"). Kernpunkt ihrer Ideologie ist die Besinnung auf die polnisch-litauischen Periode der weißrussischen Geschichte, die maximale Abgrenzung von Russland und die Eingliederung des Landes in EU und NATO.

Dass die Parteifunktionäre der Partija BNF zum engsten Beraterkreis Tichanowskajas gehören, belegt auch das vom Ex-Vorsitzenden der Partei Alexei Janukewitsch verfasste Reformprogramm, das kurz nach der Wahl am 9. August für einen Eklat sorgte.

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Die derzeitige "Demokratiebewegung" um die Oppositionskandidatin Tichanowskaja bemühte sich bislang um das Image eines reinen Bürgerprotestes – sie will sich nicht "für oder gegen Ost oder West" positionieren. Aber das fällt mitunter immer schwerer. In Berlin beschuldigte Tichanowskaja Moskau öffentlich der Einmischung, auch wenn sie immer noch von Aktivitäten "einiger Nachbarländer" sprach.

Weißrussland aufbauen

Viele deutsche Politiker gehen davon aus, dass der Machtwechsel in Weißrussland zugunsten der Opposition nur eine Frage der Zeit ist, und reden gerne über die Zeit danach. So will sich der CSU-Landesgruppenvorsitzende Alexander Dobrindt mit "Europa" nach erfolgreichen Neuwahlen am "Aufbauprozess" in Weißrussland beteiligen – ganz so, als sei das Land wie nach einem Krieg zerstört worden.

Ganz gleich, ob sie Teil der Regierung sind oder nicht, die deutschen Politiker beschreiben in den blumigsten Worten ihre Bewunderung für die "friedliche Demokratiebewegung" und den "Kampf der Frauen" im Land, und sie drängen Lukaschenko zu Neuwahlen. Denn sie wissen: Sollte es zu Neuwahlen kommen, haben die kleineren, über Jahrzehnte marginalen, aber im politischen Kampf erfahrenen prowestlichen Parteien entscheidende Vorteile. Sie verfügen über eine etablierte Organisationsstruktur, Aktivistennetzwerke sowie ein "Demokraten-Image". Hinzu kommt die massive Unterstützung aus dem Westen durch Gelder, NGO-Netzwerke, Medienkampagnen und diplomatische Aktivität. Der Gegner auf dem künftigen "Schlachtfeld" kann dem nichts entgegensetzen. Denn auf dem anderen politischen Spektrum gibt es außer Lukaschenko keine organisierte politische Kraft. Außerdem gibt Berlin klar zu verstehen: Neuwahlen, die nicht zum Sieg der vom Westen unterstützen Kräften führen, würden dort nicht anerkannt. Es wird das Bild gezeichnet, dass der Weg Weißrusslands zur "Demokratie" alternativlos sei.

Beck, die in Deutschland zu Recht zu den Hauptideologen des humanitären Interventionismus gezählt wird, wirft Russland vor, den Konflikt in Weißrussland zu "geopolitisieren". Das gleiche sagen fast alle deutsche Politiker. "Es ist nicht die Frage zwischen Ost und West, das ist die Frage zwischen Freiheit und Unfreiheit", sagt CDU-Generalsekretär Ziemiak und fügt hinzu: "Wir werden die Leute unterstützen, diesen Weg zu gehen." Auch Tichanowskaja sagt, der Kampf sei ein interer Konflikt der Weißrussen, und bittet Berlin ausdrücklich, die Proteste massiv mit Geld zu unterstützen. Was ist das, wenn nicht eine orwellsche Umkehrung – es mischen sich immer nur die anderen ein, wir dagegen "unterstützen" nur?

Aber die wichtigste Manipulation bleibt die immer wiederkehrende Behauptung, das gesamte weißrussische Volk zu repräsentieren. Selbst nach Angaben der Oppositions-NGOs auf Basis der von ihnen ausgewerteten Wahlzettel bekam Tichanowskaja nicht mehr als 25,4 Prozent der Stimmen (offiziell zehn – Anmerkung der Redaktion), während ihr Rivale Lukaschenko trotz mutmaßlicher Manipulation mit 61,7 Prozent immer noch klarer Sieger ist. "Dass die große Mehrheit der Belarussen Lukaschenko nicht mehr will, das scheint offenkundig zu sein", sagt Fücks dessen ungeachtet.

Machtwechsel bewerkstelligen

Weil es nicht auf Fakten ankommt. Es kommt auf PR, Propaganda und psychologische Beeinflussung an. Obwohl die Bundeskanzlerin offiziell keine Neuwahlen fordert, kann dies nicht die Tatsache verschleiern, dass die ganze deutsche Politmaschinerie mit ihrer massiven Unterstützung der "Oppositionsführern" Tichanowskaja Lukaschenko zu Neuwahlen drängt.

Sie fordern Dialog, und Lukaschenko weiß, dass Dialog sein Ende ist", sagt Fücks.

Als langjähriger Chef der Heinrich-Böll-Stiftung konzipierte Fücks schon für unzählige Farbrevolutionen passende ideologische Rahmen. Sein Rat ist Gold wert. Am Ende der LibMod-Konferenz fragt er:

"Wie kann ein Machtwechsel bewerkstelligt werden? Was muss geschehen, damit das Regime seine Macht nicht aufrechterhalten kann?" Dann fasst er zusammen:

Als Tichanowskaja noch in Berlin war, kam die Nachricht, dass Russland sie zur Fahndung ausschrieb. Laut der Datenbank des Innenministeriums wird sie wegen Verstößen gegen das Strafgesetzbuch gesucht. Damit folgte Moskau laut russischen Sicherheitskreisen nur seinem Partner im Unionsstaat Weißrussland, wo bereits nach Tichanowskaja gefahndet wird. Angaben zu den Vorwürfen sind noch nicht bekannt. Anstiftung zum Umsturz wäre aber der wahrscheinlichste Grund.

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