Bei dem Dialog mit der weißrussischen Opposition geht es Kanzlerin Merkel vorrangig um die Durchsetzung der liberalen Werte, die sie auch zuvor bei ähnlichen innenpolitischen Konflikten in anderen Ländern schon immer geltend gemacht hat, so der Politologe und Russlandexperte Alexander Rahr. Er erklärte:
Für Merkel ist es immer ganz wichtig, nach außen und nach innen ein besonderes Wertesignal zu entsenden. Sie selbst verlässt sich in ihrer Politik nicht auf Interessen, sondern vermehrt auf liberale Werte, auf die Verteidigung von Menschenrechtsinteressen und von Rechtsstaatlichkeit. Und deshalb ist ihr Lieblingswort in der Außenpolitik das Wort 'Zivilgesellschaft' geworden. Ob es jetzt um die Ukraine, einen arabischen Staat oder Russland geht, immer spricht sie von der Unterstützung der Zivilgesellschaft. Das ist keine Marotte von ihr, das scheint ihr immer sehr wichtig zu sein.
Dabei gebe es laut dem Politologen bei dieser werteorientierten Politik Merkels "nichts radikal Neues". Auch zuvor seien Dissidenten aus verschiedenen Ländern, wie zum Beispiel der Dalai Lama, von der deutschen Staatsführung in Berlin willkommen geheißen worden. Rahr erklärte weiter:
Die Europäer zeigen ihr liberales Gesicht, sie setzten ihre liberalen Werte durch. Darum geht es hier.
In Bezug auf mögliche Konsequenzen aus dem Treffen für die deutsch-weißrussischen Beziehungen rechnet der Russland- und Osteuropaexperte ebenfalls mit keiner großen Wende:
Lukaschenko wird mit Frau Merkel nicht mehr reden oder nicht mehr reden wollen, und sie auch nicht mit ihm. Es wird eine große Eiszeit geben zwischen Weißrussland und dem Rest Europas sowie der Europäischen Union.
Rahr zeigte sich außerdem zuversichtlich, dass der weißrussische Amtsinhaber unter den aktuellen Umständen keine andere Wahl habe, als sich an Russland zu orientieren, um an der Macht zu bleiben. Russland werde sich aus der politischen Krise in Minsk möglichst heraushalten und "kein Öl ins Feuer" gießen, so der Experte. Man habe ganz andere Probleme mit dem Westen, die man überstehen müsse. Zudem hätten sich Merkel und Putin noch zu Beginn der Krise auf eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Ex-Sowjetrepublik geeinigt.
Der Politologe betonte auch, dass Merkel als Vermittler in diesem Konflikt sehr vorsichtig vorgehen und nicht die Muskeln spielen lassen wird:
Man muss ja auch die Kirche im Dorf lassen. Tichanowskaja ist seit zwei oder drei Monaten in Weißrussland eine Figur. Davor hat sie kein Mensch gekannt. Sie ist also nicht irgendeine Oppositionsführerin, sie ist ein Symbol für den Protest, für den Widerstand gegen Lukaschenko. Aber sie kann in der Diaspora keine Regierung gründen. Das würde nicht fruchten, das würde sie auch in den Augen vieler Weißrussen zu einer Verräterin machen.
Nach dem französischen Staatschef Emmanuel Macron ist Bundeskanzlerin Angela Merkel die zweite westeuropäische Spitzenpolitikerin, die Swetlana Tichanowskaja persönlich empfing. Am Rande des Treffens äußerte sich Tichanowskaja zu der 45-minütigen Unterredung mit Merkel auf Telegram. Dabei betonte sie, dass die seit Wochen andauernden Proteste in Weißrussland nicht gegen Russland oder gegen Europa gerichtet, sondern vielmehr aus der internen Krise im Land abzuleiten seien. Sie bekräftigte, dass vorgezogene Neuwahlen das Hauptziel des weißrussischen Volkes seien. Sie appellierte an Menschen in der Welt, unabhängige Medien und Nichtregierungsorganisationen in Weißrussland finanziell zu unterstützen, um die Folgen der Krise zu überwinden.
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