Obwohl der Konflikt schon lange besteht, wurde er erst vor drei Jahren auch für ein internationales Publikum sichtbar. Seitdem ist bekannt: Nicht nur etwa in Norditalien oder Schottland gibt es Befürworter einer Unabhängigkeit vom jeweiligen "Mutterland", sondern auch in Katalonien. Die Gründe sind vielfältig: wirtschaftliche, kulturelle, historische.
Das Thema nahm im Gefolge der Finanzkrise 2008/2009 an Fahrt auf. 2015 wurde in Katalonien dann eine Regierung gewählt, die sich die Unabhängigkeit der Region von Spanien zum Ziel gesetzt hatte. Voraussetzung hierfür sollte eine Volksabstimmung sein. Doch – anders als beispielsweise 2014 in Schottland – wollte die Zentrale in Madrid mit Verweis auf die spanische Verfassung ein solches nicht genehmigen. Aber die Geschichte lehrt: Mehrheitsfähige gesellschaftliche Entwicklungen finden – früher oder später – fast immer ihren Weg. Versuche, diesen mit formaljuristischen Mitteln zu Leibe zu rücken, zeitigen allenfalls kurzfristige Wirkung. Mittelfristig wirken sie aber eher noch als Katalysator, da die Aufbegehrenden genau durch diese Reaktion ihre Befürchtungen bestätigt sehen.
In Katalonien entschied sich die Regionalregierung damals trotz Verbot aus Madrid für eine Durchführung der Abstimmung – und zwar am 1. Oktober 2017. Diese ergab rund 90 Prozent Ja-Stimmen für die Unabhängigkeit, jedoch hatte die Wahlbeteiligung bei lediglich 42,5 Prozent gelegen. Viele hatten sich ob des Verbots lieber nicht an der Wahl beteiligt. Auch der teils gewaltsame Polizeieinsatz mag zur Wahlabstinenz einiger Katalanen beigetragen haben. Die Mainstream-Antwort auf diese Geschehnisse in einem EU-Land blieb hierzulande im Übrigen eher verhalten – es handelte sich ja auch nicht um etwa die Türkei oder Weißrussland.
Der Regionalregierung genügte das Referendumsergebnis, um kurz darauf die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien zu erklären. Und Madrid reagierte prompt, indem es – sich auf einen Notstandsartikel der spanischen Verfassung stützend – die katalanische Regierung absetzte und Neuwahlen anordnete. Es folgten später auch Gerichtsurteile mit zum Teil empfindlichen Geld- und Haftstrafen gegen mehrere "Putschisten". Ministerpräsident Carles Puigdemont flüchtete ins Ausland und hat bis heute sein Land nicht wieder betreten, da er dort sonst ebenfalls mit Verhaftung zu rechnen hätte.
Es folgten unruhige Tage mit vielen Protestkundgebungen. Doch auch, wenn der Protest auf den Straßen bald wieder abebbte, hat sich Katalonien seither nicht beruhigt. Die Neuwahlen im Dezember 2017 brachten abermals eine Mehrheit für die Unabhängigkeitsbefürworter hervor. Und nach weiteren Querelen mit Madrid im Zusammenhang mit einer langen und komplizierten Regierungsbildung wurde schließlich Quim Torra neuer Ministerpräsident. Dieser bezeichnet sich selbst jedoch als "Übergangsministerpräsident" – quasi in Vertretung des "legitimen" Regierungschefs Puigdemont.
Auch in Madrid hatte zwischenzeitlich die Regierung gewechselt. Der neue Regierungschef Pedro Sánchez gab sich zunächst gesprächsbereiter als sein Vorgänger Mariano Rajoy. So gab es zunächst noch Gespräche zwischen Madrid und Barcelona. Doch scheiterten diese letztlich an der katalanischen Forderung nach einem internationalen "Beobachter" der Verhandlungen. Auch startete just zu diesem Zeitpunkt der Strafprozess gegen die "Putschisten" vom Oktober 2017. Unter dem Strich blieb es somit bei dem harten Konfrontationskurs ohne Annäherung in der Sache. Und letztlich war es genau diese Situation, weswegen die katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter bei der Haushaltsdebatte im Februar 2019 in Madrid gegen Sanchez stimmten, woraufhin Neuwahlen nötig wurden.
Vermutlich nicht zuletzt wegen all jener geballten Vorkommnisse waren während des nun folgenden Wahlkampfes am Regierungssitz in Barcelona und auch an anderen Gebäuden der Region unzählige gelbe Schleifen als Zeichen der Solidarität mit inhaftierten "Putschisten" angebracht worden. Die Wahlkommission hatte die Entfernung der Symbole mit der Begründung gefordert, diese repräsentierten nur einen Teil der Bevölkerung. Zeitweise war Torra dieser Aufforderung nachgekommen, und stattdessen war dann ein Banner mit der Aufschrift "Meinungsfreiheit" an der Fassade des Regierungssitzes zu sehen. Dieses wurde jedoch später wieder durch ein anderes mit der Forderung nach Freilassung der "politischen Gefangenen" ersetzt.
Wegen seiner Weigerung, derlei Symbole der Unabhängigkeit zu entfernen, war Torra dann im Dezember 2019 vom katalanischen Oberlandesgericht wegen "Ungehorsam" abgesetzt worden. Er dürfe sich zudem für 18 Monate nicht politisch betätigen. Außerdem wurde ihm eine Geldstrafe von 30.000 Euro auferlegt. Der Regierungschef legte daraufhin Berufung ein. Solange das Berufungsverfahren noch lief, durfte Torra im Amt verbeiben. Wie die dpa berichtet, haben die Richter nunmehr aber einstimmig entschieden, die Berufung abzulehnen. Damit ist die ursprüngliche Entscheidung rechtskräftig. Torra äußerte sich dazu in einer Rede so:
Einige Richter haben beschlossen, dass ich nicht mehr Ministerpräsident Kataloniens sein darf. Ich will euch sagen, dass kein ungerechtes Gesetz und keine Racheaktion die Demokratie bezwingen kann.
Man werde nun einen Prozess vor den europäischen Gerichten anstrengen. "Nur dort können wir katalanische Separatisten Gerechtigkeit finden", so Torra weiter. Das Urteil traf auch über den Kreis der Unabhängigkeitsbefürworter hinaus auf ein kritisches Echo. So bezeichnete nach Informationen der dpa etwa auch der als angesehen geltende Universitäts-Minister der Madrider Zentralregierung, Manuel Castells, die Entscheidung der Justiz als "Provokation" in "einer ohnehin schon sehr komplizierten Lage".
Tatsächlich gingen noch am vergangenen Montagabend, dem Tag der Bekanntmachung des Urteils, in ganz Katalonien Tausende Menschen gegen die Absetzung ihres Regierungschefs auf die Straße. In Barcelona bewarfen sie Polizisten mit Böllern, Müllsäcken, Steinen und auch mit Schweineköpfen. Sie setzten zudem Müllcontainer in Brand. Offen bleibt, ob die Amtsenthebung Torras mitten in der Corona-Krise und beinahe auf den Tag genau drei Jahre nach dem Unabhängigkeitsreferendum zu einer neuen Eskalation des Konflikts führen wird. Wie der spanische Fernsehsender RTVE kommentierte, herrsche in Katalonien nun jedenfalls "große Ungewissheit".
Die Amtsnachfolge wird nun Torras bisheriger Vize Pere Aragonès antreten. Es gilt als sicher, dass Aragonès für Anfang 2021 Neuwahlen ausrufen wird. Torra selbst rief bereits dazu auf, die vorzeitigen Wahlen zu einer Volksabstimmung über die Abspaltung von Spanien zu machen.
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