Bei diesem EU-Gipfel geht es um viel. Es sollen Grundsatzentscheidungen getroffen werden, in welche Richtung die Wirtschaftspolitik der Union angesichts der Corona-Krise gelenkt werden soll. Im Einladungsschreiben an die Staats- und Regierungschefs schrieb Ratspräsident Charles Michel, dass er "vor allen Dingen" darüber diskutieren möchte, wie "wir die strategische Autonomie der EU neben der offenen und wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft stärken können".
Gemeint ist damit, ob die EU weiterhin an ihrem Bekenntnis zu offenen Märkten festhält oder ob sie sich im Wettbewerb mit den USA und China bereits abschottet. Es geht um die Abschlusserklärung, in der dieses Bekenntnis aufs Papier gebracht werden soll. Die Balten, Skandinavier, die Niederlande und Irland befürchten, dass sich hinter dem Begriff "strategische Autonomie" eine Abschottung der EU verbirgt, um die eigene Industrie vor unfairem Wettbewerb zu beschützen.
Frankreich hingegen ist die treibende Kraft hinter dem Konzept der "strategischen Autonomie" und bekommt dafür Rückendeckung aus Italien, Ungarn und Rumänien. Allerdings sei das kein Gegensatz zu offenen Märkten, wie es die liberalen Länder befürchten, heißt es aus diesem Block. Beide Seiten blicken dabei auf Deutschland und die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich zu dieser Frage noch nicht klar positioniert hat. Sollte sich die Bundesregierung auf die Seite der radikalen Verfechter der offenen Märkte schlagen, stünde Berlin in einem weiteren Spannungsfeld auf der gegenüberliegenden Seite zu Frankreich.
Bereits jetzt lähmen die unterschiedlichen nationalen geopolitischen Strategien der beiden mächtigsten EU-Staaten die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Union. So sollten bereits vor Wochen Sanktionen gegen Weißrussland verhängt werden, nachdem man sich entschlossen hatte, den Ausgang der Präsidentschaftswahlen in dem osteuropäischen Land vom 9. August nicht anzuerkennen. Doch Zypern verweigerte seitdem die Zustimmung, weil sich die Regierungen der EU-Staaten angeblich nicht an die Abmachung des Außenministertreffens am 28. August in Berlin halten.
Demnach sei abgemacht worden, dass sowohl Weißrussland als auch die Türkei – Letztere für ihr Vorgehen im östlichen Mittelmeer – sanktioniert werden sollen. Während Frankreich in dieser Frage hinter Griechenland und Zypern steht und ebenfalls Sanktionen gegen die Türkei befürwortet, sperrt sich Deutschland dagegen. Ankara steht auch in Libyen den Interessen der französischen Regierung im Wege, was Paris noch mehr dazu veranlasst, die griechisch-zypriotische Position zu unterstützen. Doch von all dem will Berlin nichts wissen. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) erklärte nach dem Treffen im August, dass eine "diplomatische Lösung im Rahmen direkter Gespräche" mit der Türkei weiterhin das "dringlichste Ziel" der Bundesregierung sei.
Für Deutschland ist die Türkei zu einem wichtigen Faktor der eigenen Sicherheit geworden. Nicht nur, dass deutsche Unternehmen viel Geld in dem Land verdienen (Deutschland war 2019 das drittgrößte Importland der Türkei), noch viel wichtiger ist es aus Sicht der Bundesregierung, dass Ankara seinen Verpflichtungen aus dem Flüchtlings- und Migrationsabkommen von 2016 nachkommt und Sorge trägt, dass sich nicht wieder hunderttausende Menschen auf den Weg in die EU machen. Der Großteil davon würde wahrscheinlich Deutschland als Ziel aussuchen.
Das weiß natürlich auch die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Immer wieder drohte er damit, die Grenzen zu öffnen und die EU mit Migranten zu "fluten". Ende Februar versucht er, Zugeständnisse der EU zu erpressen, indem er die Grenzen öffnete. Nur durch eine harte und entschiedene Reaktion Griechenlands – mit politischer Unterstützung der EU-Führung – konnte verhindert werden, dass sich Erdoğan durchsetzen konnte. Im Streit mit Frankreich braucht er aber auch Berlin auf seiner Seite, um eine einheitliche außenpolitische Linie der EU zu verhindern, die der Türkei schaden könnte.
Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu sagte kürzlich vor deutschen Journalisten in Ankara:
Im Vergleich zu der Situation vor ein paar Jahren sind Deutschland und die Türkei heute auf einem viel besseren Weg.
Er lobte dabei insbesondere die Rolle der Kanzlerin, die sich stark engagiert habe, um die Probleme im östlichen Mittelmeer zu lösen. Die Blockadehaltung Zyperns zeigt aber, dass die deutsche Haltung gegenüber der Türkei nicht überall gut ankommt. In Brüssel sollte versucht werden, die zypriotische Regierung davon zu überzeugen, dennoch den Weg für Sanktionen gegen Weißrussland freizumachen.
Litauens Präsident Gitanas Nausėda erklärte im Vorfeld des EU-Gipfels, dass er erwarte, dass die "Entscheidung für Sanktionen gegen weißrussische Behörden" beim Treffen der Staats- und Regierungschefs gefällt werden könne. Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet, könnte laut EU-Diplomaten Zypern ein Kompromissvorschlag unterbreitet werden. Man sichert zu, die Türkei zu sanktionieren, sollte Ankara weiterhin in den Gewässern von Griechenland und Zypern nach Gas und Öl bohren oder "andere Provokationen" durchführen.
Nach zähen Verhandlungen, die sich bis in die Nacht hineinzogen, gab Zypern schließlich die Blockade gegen Weißrussland-Sanktionen auf. Dafür erhielt Nikosia die Zusicherung, dass die EU im Dezember die Lage mit der Türkei erneut bewerten werde. Und sollten bis dahin die türkischen "Provokationen" weitergehen, werde man Sanktionen gegen Ankara verhängen, lautet der akzeptierte Kompromiss.
Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte diese Gipfelbeschlüsse noch in der Nacht als einen "großen Fortschritt" und bezeichnete den ersten Tag als "sehr erfolgreich". "Ich darf für die Bundesrepublik Deutschland sagen (...), dass wir in den Gesprächen mit der Türkei diese positive Agenda auch weiter voranbringen wollen, weil wir um die Wichtigkeit - bei allen Unterschieden - der strategischen Beziehungen zur Türkei wissen", betonte Merkel.
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