Als die Direktion für Verkehrswesen des Innenministeriums der Russischen Föderation des Sibirischen Föderalbezirks ihr erstes Rechtshilfeersuchen an das Bundesamt für Justiz am 27. August zum Fall Nawalny richtete, stand die Diagnose seiner Vergiftung mit dem hochtoxischen Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe noch nicht fest. Diese wurde am 2. September von den höchsten Vertretern der Bundesregierung in Form eines politischen Statements verkündet.
Bislang wurden allerdings keine Beweise zu dieser Behauptung vorgelegt, behördliche Zusammenarbeit gemäß dem Übereinkommen über die gegenseitige Rechtshilfe findet auf deutsche Initiative nicht statt. Auch die Ärzte der Berliner Charité, die Nawalny seit dem 22. August behandeln, halten sich bedeckt. Es ist nicht bekannt, wer den "politischen Patienten" behandelt und wie diese Behandlung vonstattengeht. Es ist lediglich bekannt, dass der Chef der russischen NGO Fonds für Bekämpfung der Korruption (FBK) vor circa zwei Wochen aus dem Koma erwacht ist und sich auf dem Weg der Genesung befindet. Laut seinem letzten Instagram-Eintrag ist er mittlerweile sprech- und gehfähig.
Diese Umstände veranlassten Moskau, ein zweites Rechtshilfeersuchen an die deutschen Behörden zu richten. Der Text der Anfrage der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation und das dazugehörige Ersuchen der Transportpolizei liegen RT exklusiv vor. Das Dokument ist vom 14. September datiert und umfasst fünf DIN-A4-Seiten. Der wesentliche Unterschied zum ersten Rechtshilfeersuchen besteht darin, dass die russischen Ermittler die deutschen Experten nun unmissverständlich nach der chemischen Formel des "nervenparalysierenden Giftstoffes" fragen und den Wunsch äußern, Herrn Nawalny zu den Umständen seiner Erkrankung selbst zu befragen. Darüber hinaus erbitten sie auch, die Teilnahme zweier hochrangiger russischer Ermittler an der Befragung in Deutschland zu bewilligen. Hierbei handelt es sich um einen Vertreter des Innenministeriums auf dem Gebiet "gefährlicher Substanzen" und einen Vertreter der Tomsker Transportpolizei.
Vor allem ist es den Ermittlern wichtig, von Alexei Nawalny im Detail zu erfahren, welche Vorerkrankungen und Beschwerden er vor seinem Zusammenbruch hatte und welche Medikamente er zu sich nahm. Sie gehen in ihrer Hauptdiagnose nach wie vor von einer Störung des Kohlenhydratstoffwechsels und in der Nebendiagnose von einem akuten Schub einer chronischen Pankreatitis mit Störung der endo- und exokrinen Funktionen aus. Auch Nawalnys eigene Meinung zu der rapiden Verschlechterung seines Zustandes an Bord des Flugzeugs wäre von Bedeutung.
Die genauen Umstände zu dem Aufenthalt mit seinem Team in einem Hotel in der Stadt Tomsk sind ebenso ein Thema. Aus dem Ersuchen geht beispielsweise hervor, dass er in der Unterkunft das Zimmer wechselte. "Mit wem hielt er sich dort auf?", fragen die Ermittler.
Im Hinblick auf die letzten Erkenntnisse über die sogenannten "Nowitschok-Flaschen" und ihrem Schmuggel nach Deutschland interessiert die Ermittler auch, welche persönliche Gegenstände von Herrn Nawalny wann und wo konfisziert wurden. Waren sie mit dem besagten Giftstoff kontaminiert, sollten alle Informationen zur chemischen Formel und die Ergebnisse der durchgeführten Spektralanalyse mitgeteilt werden, so die Ermittler.
Am 17. September stellte Alexei Nawalny das Video seiner Gefolgsleute ins Netz, in dem zu sehen ist, wie mehrere Personen sein Hotelzimmer durchsuchen und drei in Tüten eingewickelte Flaschen gegen den Willen der Hoteldirektion in einen Sack packen. Diese wurden dann später von der britischen Staatsbürgerin Maria Pewtchich mit einer Sondermaschine nach Deutschland verfrachtet. Laut BND-Chef Bruno Kahl handelte es sich bei dem gegen Nawalny eingesetzten Nervengift um eine "härtere" Variante als das bisher bekannte Nowitschok.
Unterdessen versucht Deutschland die Organisation zum Verbot der chemischen Waffen (OPCW) einzubinden. Dies erfolgt gemäß Paragraf 8, Artikel 38e des Chemiewaffenübereinkommens (CWÜ). Der Vorwurf gegen Russland, diese geächteten Chemiewaffen gegen Alexei Nawalny eingesetzt zu haben, steht damit im Raum. Dieser Vorstoß der Bundesregierung stellt jedoch kein offizielles Verfahren für die Verifizierung der Vorwürfe dar. Russland wirft angesichts dieser Intransparenz sowohl Deutschland als inzwischen auch der OPCW "dreckige Spiele" vor. Die Rückkehr zu geregelten juristischen Verfahren in der Aufklärung des Nawalny-Falls böte allerdings die Gelegenheit, die politisch verfahrene Situation, die immer öfter als "echter Kalter Krieg" bezeichnet wird, zu entschärfen.
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