Bei der neuen Protestaktion von Frauen in Weißrussland gegen Staatschef Alexander Lukaschenko hat es nach Angaben von oppositionsnahen NGOs mehr als 300 Festnahmen gegeben. Das Bürgerrechtsportal spring96.org veröffentlichte am Samstag die Namen von 314 Frauen, die bei der Aktion in der Hauptstadt Minsk in Gewahrsam kamen. Die Zahl war etwa doppelt so hoch wie bei den Protesten am Samstag vor einer Woche, als maskierte Uniformierte das erste Mal überhaupt mit Gewalt gegen die friedlichen Demonstrantinnen vorgegangen waren. Dabei gab es vor einer Woche auch Verletzte.
In der Regel werden die Festgenommenen nach einigen Stunden im Polizeigewahrsam und Feststellung der Personalien freigelassen. Besonders aktiven Teilnehmerinnen drohen administrativen Strafen.
"Wir vergessen nicht! Wir vergeben nicht!" und "Lukaschenko w Awtosak!" – zu Deutsch: "Lukaschenko, in den Gefangenentransporter", skandierten die Demonstrantinnen am zentralen Komarowski-Markt. An mehreren Stellen standen Gefangenentransporter bereit. Autofahrer hupten den Frauen solidarisch zu, wie ein Reporter der Nachrichtenagentur dpa berichtete.
Als die Uniformierten zugriffen, schrien die Frauen laut und riefen "Posor!" ("Schande!"). Auch die 73 Jahre alte Nina Baginskaja, eine Veteranin der Protestbewegung und eine seit ihrem Kampf gegen die Kommunisten zu Sowjetzeiten bekannte Dissidentin, wurde in einen Transporter gezwungen.
Seit der Präsidentenwahl am 9. August kommt es in Belarus fast täglich zu Protesten. Lukaschenko hatte sich mit 80,1 Prozent der Stimmen nach 26 Jahren im Amt zum Wahlsieger erklären lassen. Der 66-Jährige strebt eine sechste Amtszeit an. Die Opposition hält dagegen Swetlana Tichanowskaja für die wahre Siegerin. Allerdings bekam sie auch laut digitalem Verfahren für Stimmauszählung, das die Oppositionellen selbst installierten, nur gut 20 Prozent der Stimmen, während Lukaschenko mit fast 62 Prozent trotzdem Wahlgewinner ist.
Nichtsdestotrotz protestieren die Menschen weiter, Polizeigewalt ist ein weiterer Grund dafür. Der "Marsch der weiblichen Solidarität", wie er hieß, war am Samstag zunächst ohne Polizeieinsatz durch mehrere Straßen gezogen. "Lang lebe Belarus!", riefen Frauen, während sie die historischen, stark umstrittenen weiß-rot-weißen Fahnen trugen. Teils spannten sie Regenschirme in den Farben der "Revolution" auf, weil Sicherheitskräfte die Fahnen immer wieder beschlagnahmen.
Die Demonstrantinnen fordern Neuwahlen ohne Lukaschenko, die Freilassung aller politischen Gefangenen und die strafrechtliche Verfolgung der Polizeigewalt. Auch in anderen Städten des Landes waren die Frauen wie an den vergangenen Samstagen aufgerufen, friedlich gegen "Europas letzten Diktator" zu demonstrieren. Das teilten die Organisatorinnen von Girl Power Belarus in ihrem Nachrichtenkanal bei Telegram mit.
Die Polizei hatte wie täglich bei Protesten gegen Lukaschenko gewarnt, dass die Straßenaktionen nicht genehmigt seien. Die Kundgebungen zur Lukaschenkos Unterstützung sind im Gegensatz dazu erlaubt. Diese werden in der Regel von den regierungsnahen Gewerkschaften organisiert. Vor wenigen Tagen trat der Staatschef auf dem sogenannten Frauen-Forum in der Minsk-Arena vor circa 11.000 Versammelten auf. Gekommen waren Angestellte, Arbeiterinnen und Lehrerinnen aus allen Teilen des Landes, um den Präsidenten zu unterstützen. In seiner Rede gab er sich kämpferisch und wies auf die äußeren und inneren Gefahren für die Zersetzung des Staates hin. Die Atmosphäre war feierlich.
Ihr wisst, dass ich kein Aggressor bin, ich bin ein friedlicher Mensch. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, wo jeder jedem geholfen und geschützt hat. Ich habe versucht, es in unserem Land so zu machen, dass alle Freunde werden. (…) Ich war dagegen, dass heute dieses Unglück unsere Straßen heimsucht. (…) Ich will nicht, dass unser Land in einen Krieg verwickelt wird", sagte er.
Zwei Tage zuvor, am 16. September, hielt Lukaschenko eine bemerkenswerte halbstündige Rede vor dem sogenannten "politischen Aktiv", den Vertretern der höchsten Staatsbürokratie, wie Minister, Abgeordnete, Gouverneure und Gewerkschaftsvertreter. Proteste nannte er eine klassische Farbrevolution mit ausländischer Steuerung. "Ausländische Strategen wählten sorgfältig die Schlüssel zu jeder sozialen Schicht in Weißrussland aus und schufen 'Helden' für verschiedene Zielgruppen", sagte er auch im Hinblick auf die Frauen:
Es wurden modernste Polittechnologien eingesetzt, die Politik in eine Show für ein Massenpublikum verwandeln. Die Opposition baute seine Taktik auf der Ausbeutung eines Frauenbildes, das in Weißrussland traditionell hochgeschätzt ist. Dieses Mal nahm sie neue, karnevaleske Formen an. Die Märsche der Frauen werden von den emotionalen, euphorischen Attributen begleitet, mit einfachen Parolen, Lichtern und Luftballons."
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Im Hinblick auf die viel kritisierte Polizeigewalt sagte er, dass Passivität der Sicherheitsorgane unausweichlich zur "Einschaltung weiterer Maidan-Technologien" geführt hätte. Es war auffällig, dass Lukaschenko über Proteste in Vergangenheitsform redete. Offenbar geht er davon aus, dass die akute politische Krise vorbei ist. Obwohl er politische Reformen versprach, zeigen sich zahlreiche Protestgruppen bereit, im In- und Ausland für seine Absetzung weiterhin zu kämpfen. Die EU hat in einer Erklärung Lukaschenko nicht als legitimen Präsidenten anerkannt und Sanktionen gegen einige Staatsvertreter beschlossen.
Derweil ist eine gewisse Protestmüdigkeit zu beobachten. Große Teile der Bevölkerung zeigen kein Verständnis für Proteste und wollen Ruhe auf den Straßen. Dazu gehören auch viele Frauen. Sie zeigen sich sogar bereit, Polizeieinsätze zur Zerstreuung der Proteste zu unterstützen. Das belegen viele RT-Gesprächspartner im Land. Dennoch ist ein Riss durch die Gesellschaft gegangen, viele Familien sind in der "Lukaschenko-Frage" entzweit. Nach 26-jähriger autoritärer Herrschaft ist eine ganze Generation herangewachsen, die sich nach mehr Selbstbeteiligung und politischer Teilhabe sehnt.
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