Die häufig verwendete Begründung dafür, dass es das transatlantische Militärbündnis auch noch beinahe 30 Jahre seit der Auflösung des Warschauer Pakts – dem Gegenstück der NATO – gibt, ist, dass man so kollektiv die Sicherheit einzelner Staaten garantiert. Seit spätestens 2014 hat das Bündnis auch den lange Zeit verlorengeglaubten Feind wiedergefunden, den man während des Kalten Kriegs zu schätzen gelernt hat. Nach Jahren der Orientierungslosigkeit im sogenannten "Kampf gegen Terror" richteten sich die Antennen nach dem Putsch in der Ukraine und der Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation wieder gen Osten.
Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Hastings Lionel Ismay, war damals schon bedeutend ehrlicher. Das Bündnis sei geschaffen worden, um "die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen, und die Deutschen unten zu halten". In einem US-Regierungsdokument aus dem Jahr 1992 wird ebenfalls deutlich gemacht, dass man die NATO als "primäres Instrument" zur Einflussnahme in Europa "bewahren" müsse. Und in einem NATO-Papier aus dem Jahr 2018 wurde behauptet, dass Deutschland bezüglich Russland im "falschen Bewusstsein" gefangen sei.
Deutschland muss zwar nicht mehr "unten" gehalten werden, wie es Lord Ismay formulierte, aber Russland soll hingegen nach wie vor "draußen" bleiben. Nicht, weil es eine reale Bedrohung für irgendeinen Staat darstellen würde, sondern weil es einzig und allein den US-Interessen in Europa im Wege stehen könnte. Aus diesem Grund setzt Washington auch alles daran, eine Annäherung zwischen Berlin und Moskau zu verhindern.
George Friedman, eine Koryphäe auf dem Gebiet der Geopolitik und Gründer von Stratfor, einem einflussreichen Analyse- und Beraterunternehmen mit dem Beinamen "Schatten-CIA", sorgte bereits 2015 mit der Aussage für Wirbel, wonach ein deutsch-russisches Bündnis eine Bedrohung für die US-Dominanz in Europa wäre. Nun legte er in einem Interview mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten nach und erklärte erneut, warum die USA ein Bündnis zwischen Berlin und Moskau nicht haben möchten.
Eine russisch-deutsche Entente würde Europa dominieren, die Gründe für die NATO beenden und das genaue Ergebnis erzielen, das die USA sowohl im Zweiten Weltkrieg als auch im Kalten Krieg verhindern wollten. Es gab eine Zeit, in der Deutschland diese Sichtweise auf Russland teilte.
Dass es so weit kommen könnte, erscheint seit dem vom Westen unterstützten Putsch in der Ukraine im Februar 2014 und den immer schlechter werdenden Beziehungen eher unwahrscheinlich. Zu viel böses Blut wurde in den vergangenen sechs Jahren erzeugt. Die mutmaßliche Vergiftung des russischen Oppositionellen Alexei Nawalny und die daraufhin ausgelöste Rhetorik gefährden nun sogar die selbst von der Bundesregierung als strategisch wichtig eingestufte Nordsee-Pipeline Nord Stream 2.
Allerdings sieht Friedman hier nicht das Werk der USA hinter dieser Entwicklung, sondern als das der Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) selbst. Das gesamte Energieumfeld habe sich seit der Konzeption von Nord Stream 2 "radikal" verändert, was das Projekt überflüssig erscheinen lasse. Nur habe sich Berlin nicht getraut, von sich aus auszusteigen. Deshalb vermutet er, "dass Deutschland mit dem Druck der USA zufrieden ist, da es eine Entschuldigung dafür bieten kann, einen Deal zurückzuziehen, der nicht mehr funktioniert."
Mehr zum Thema - Heiko Maas bei Berliner Forum: Entkopplung zwischen EU und USA kommt nicht in Frage