Mit jedem neuen Detail in der Affäre um den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny mehren sich auch die Versionen seiner angeblichen Vergiftung. Noch am 4. September berichtete der Spiegel, dass das Bundeswehr-Fachlabor die Nowitschok-Rückstände nicht nur in Nawalnys Bioproben, sondern auch an einer Wasserflasche gefunden habe. Es wurde folgende Hypothese in den Raum gestellt:
Vermutlich hatte Nawalny aus der Flasche getrunken, als er bereits vergiftet war, und so die Spuren des Gifts dort hinterlassen.
Später ergänzte die Zeit diese Version mit Verweis auf deutsche Geheimdienste. Angeblich sollen russische Agenten das Gift in den Tee "geträufelt" oder die Tassenoberfläche damit präpariert haben. "Demnach hätte Nawalny an Bord des Flugzeuges sterben sollen."
Die "Zuerst Tee, dann Flasche"-Version erwies sich jedoch als unhaltbar – RT erstellte dazu einen eigenen Faktencheck. Inzwischen weckte die Frage, wie die Flasche als potenzielles Beweisstück überhaupt vorbei an den russischen Ermittlungsorganen nach Deutschland gelangen konnte, das Interesse russischer Behörden, wie aus einer russischen Anfrage an die EU hervorgeht.
Nun meldet sich Nawalny selbst mit dem Text "Wo kommt die Flasche her?" auf seinem Instagram-Kanal zu Wort, um das "Flaschen-Geheimnis" zu lüften: Die Flasche stamme aus dem Zimmer des Tomsker Hotels, in dem er selbst und seine gesamte Filmcrew übernachteten. Nawalny erwachte laut Charité letzte Woche aus dem Koma und befindet sich auf dem Weg der Besserung.
In den beiden sibirischen Städten Nowosibirsk und Tomsk drehten Nawalny und sechs Mitarbeiter seines Anti-Korruptions-Fonds (FBK) Filme zur Unterstützung der Kandidaten des Nawalny-Stabs bei den Regionalwahlen. Am 20. August flogen nur zwei von ihnen mit Nawalny nach Moskau, vier blieben im Hotel, um die Dreharbeiten abzuschließen.
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Das russischsprachige "Enthüllungs"-Portal Projekt mit Sitz in Litauen und den USA, das durch diverse US-Fonds finanziert wird, schreibt, die im Hotel verbliebenen Mitarbeiter hätten gefrühstückt, als sie die Nachricht über Nawalnys Zusammenbruch ereilte. Sie riefen weitere Aktivisten aus dem Tomsker Nawalny-Stab an und sicherten mit ihnen den Zugang zum Hotelzimmer. Das Nawalny-Team ging sofort nach dem Zusammenbruch von einem Giftanschlag aus und wollte das Zimmer vor dem Eintreffen der Polizei selbst besichtigen.
Zu diesem Zeitpunkt wurde das einzig Mögliche getan. Sie riefen einen Anwalt, gingen in den Raum, den Nawalny gerade verlassen hatte, und begannen, alles, was sie dort fanden, aufzunehmen, zu beschreiben und zu verpacken. Vor allem die Flaschen mit dem Wasser aus dem Hotel", schreibt Nawalny auf seinem Instagram-Kanal und postet ein Video.
Das Video dauert eine Minute. Die Kamera schwenkt durch das Zimmer, man sieht zuerst zwei Halbliter-Flaschen, danach noch eine, alle sind angebrochen.
"Solange es keine Erlaubnis gibt, kann ich nichts herausgeben", sagt eine Frauenstimme im Off, vermutlich eine Hotelmitarbeiterin. "Für die Wasserflaschen brauchen wir keine Erlaubnis", entgegnet eine andere Frau, vermutlich Maria Pewtschich, die als "diskrete Vertraute" aus London kam und am 22. August nach Deutschland flog.
Zu sehen ist, wie ein Nawalny-Mitarbeiter die Flaschen einsammelt und in einen Plastiksack packt. Die Flaschen sind in Tüten eingewickelt, die Anwesenden tragen Handschuhe. "Hat jemand die Flaschen mit den Händen angefasst?", fragt er. Die Anwesenden verneinen.
"Wenn sie etwas mitnehmen wollen, geht es nur über Polizei, das sagt der Hoteldirektor", ist wieder zu hören. "Wir können dieser Forderung nicht Folge leisten, tut mir leid", sagt eine männliche Stimme aus dem Off.
Damit legten die Nawalny-Mitarbeiter offen, dass sie die Wasserflaschen "auf eigene Faust" beschlagnahmten. Hierzu zitiert Projekt einen Nawalny-Mitarbeiter aus dem Moskau-Team: "Denn in Russland wird es definitiv nicht untersucht werden." "Es wurde alles getan, um die Beweise zu sichern", sagte ein Aktivist aus dem Tomsker Stab.
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Die FBK-Mitarbeiter schweigen darüber, wie genau dieses "Beweismaterial" den deutschen Behörden übergeben wurde. Projekt verfügt über gute Kontakte zur russischen Oppositionellenszene. Im Artikel wird gemutmaßt:
Maria Pewtschich könnte die Flasche vom Hotel nach Berlin gebracht haben. Im Gegensatz zu ihren Kollegen bei der Stiftung kannte sie nur ein enger Kreis von Mitarbeitern und Journalisten, die ihr nahestanden. Sie mochte keine Publicity, obwohl sie die Autorin vieler Untersuchungen unter dem Markennamen Nawalnys war. Sie hat in Moskau und London studiert und lebt jetzt dauerhaft in Großbritannien.
Nach Angaben des ehemaligen Juristen Witali Serukanow, der von 2013 bis Dezember 2017 Führungspositionen in der FBK und Nawalnys Wahlstäben innehatte, agierte Pewtschich wie eine Verbindungsperson nach London, dem Sitz einiger wichtiger Geldgeber Nawalnys und Informanten aus den britischen Geheimdiensten. Nach Angaben der Sibirischen Transportpolizei flog Pewtschich am 22. August nach Deutschland aus. Details zum Flug nannte die Polizei nicht.
Nach Angaben von Jaka Bizilj, der als Leiter der NGO "Cinema for Peace" die Überführung Nawalnys nach Deutschland mitorganisierte, flog die Flasche im selben Flugzeug wie Nawalny mit. Das meldete ein Bild-Redakteur auf seinem Twitter-Account.
Nawalnys Stabschef hatte mich gebeten sicherzustellen, dass die Flaschen transportiert werden können, obwohl darin ja noch Flüssigkeit war. Das Team hat das ermöglicht", sagte Bizilj.
Damit ist es sehr wahrscheinlich, dass Pewtschich mit Nawalny in derselben Maschine flog. Derzeit gibt es keine direkte Flugverbindung von Moskau nach Berlin. Ein Flug vom westsibirischen Omsk nach Berlin würde mit zwei Stopps mindestens 22 Stunden dauern.
Die Frage, wann und wo es zum Kontakt Nawalnys mit der Flasche kam, kann derzeit laut Projekt nicht beantwortet werden. Der Politiker selbst könne sich nicht erinnern, wann er aus dieser Flasche trank, sagt einer der FBK-Mitarbeiter.
Die russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti bat den russischen Chemiker und Nowitschok-Mitentwickler Leonid Rink um einen Kommentar zu den neuen Details im Fall Nawalny:
Das Auftragen von Gift auf die Flasche hätte nicht nur zum Tod von Nawalny geführt, sondern auch zum Tod aller, die die Flasche berührt hätten", sagte er.
Er wies darauf hin, dass Nowitschok ein Kampfstoff sei, der für die großflächige Anwendung mit sofortiger Wirkung entwickelt wurde. Die Möglichkeit einer individuellen Anwendung mit einer um mehrere Stunden aufgeschobenen Wirkung, wie sie bei Nawalny vermutet wird, schließt er kategorisch aus.
Außerdem tauge die Flasche allein aus ermittlungstechnischen Gründen nicht als Beweisstück. "Wenn man bedenkt, dass alle Flaschen gleich sind, ist das ein toter Beweis."
Ein anderer Nowitschok-Entwickler, Wladimir Ugljew, mit dem Projekt sprach, hielt eine Vergiftung Nawalnys mit Nowitschok jedoch für möglich, allerdings nicht auf oralem Wege. Sollte das Gift mit Wasser in den Körper gelangen, würde der Vergiftete in wenigen Minuten "mit Krämpfen sterben". Laut ihm könnten 20 Prozent der tödlichen Dosis über Hautkontakt in den Körper gelangen. Der Omsker Cheftoxikologe Alexander Sabajew, der Nawalny zwei Tage behandelte und nach Deutschland entließ, schließt jegliche Vergiftung Nawalnys aus, weder Symptome noch Proben hätten dies bestätigt.
Ein FBK-Mitarbeiter kündigte an, während eines Streams am Donnerstagabend auf dem Youtube-Kanal Nawalny-Live von weiteren Details der Spurensicherung zu erzählen. Am selben Tag billigte das EU-Parlament eine Resolution, die härtere Sanktionen gegen Russland wegen der angeblichen Vergiftung Nawalnys vorsieht und eine "internationale Untersuchung" der "Giftattacke" fordert.
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