Mit überraschender Einigkeit protestierte die EU gegen die US-amerikanische Einmischung beim Bau der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 in einer zuvor niemals angewandten Form: als Demarche, die am 12. August per Videokonferenz erfolgte. Laut diplomatischen Kreisen hätten die 24 der 27 EU-Mitgliedsstaaten die Protestnote unterstützt. Die EU wehre sich "aus Prinzip" gegen die Anwendung von Sanktionen durch Drittstaaten gegen "europäische Firmen, die einem legitimen Geschäft nachgehen", hieß es im Dokument. Extraterritoriale Sanktionen betrachte man als einen Bruch internationalen Rechts:
Europäische Politik sollte in Europa entschieden werden, nicht von Drittstaaten.
Die Reaktion der USA auf die Protestnote fiel einerseits beschwichtigend aus. Ein Sprecher der US-Botschaft in Berlin erklärte auf Nachfrage der Welt, die USA zögen es vor, nicht auf Sanktionen zurückgreifen zu müssen. Doch der Sprecher unterstrich nochmals, dass die dominierende Stellung Russlands auf dem europäischen Energiemarkt eine Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA und deren außenpolitischen Interessen darstelle. Man müsse deshalb darauf "reagieren".
Nawalny-Zusammenbruch: NATO-Labore gefragt
Acht Tage nach der EU-Demarche brach der russische Staatsbürger Alexei Nawalny während eines Inlandsfluges in seiner Heimat zusammen. Nawalny betreibt seit Jahren die Nichtregierungsorganisation "Stiftung für den Kampf gegen Korruption" und ist in Russland politisch aktiv. Er verfügt über vorzügliche Kontakte zu einflussreichen Personen im US- und EU-Establishment und wird in den westlichen Medien als "schärfster Putin-Kritiker" bezeichnet. Nawalny werden Verbindungen zu britischen und US-Geheimdiensten nachgesagt, da sein Büro viel exklusives Material für seine Enthüllungen durch seine in London ansässigen Mitarbeiter bezieht. Dieser Verdacht wird auch von RT-Quellen aus seinem Umfeld bestätigt.
Schnell stellte das Umfeld von Nawalny den Vorwurf einer Vergiftung in den Raum. Während er nach einer Notlandung im städtischen Notfallkrankenhaus in Omsk behandelt wurde, behaupteten Nawalnys Begleiter, dass er sterben würde, wenn er in Russland bleibt. Die Medienkampagne "Rettet Alexei" wurde gestartet. Schnell wurde die NGO "Cinema for Peace" eingeschaltet. Sie verfügt über ausgezeichnete Kontakte zur russischen Opposition und hat sich schon vor zwei Jahren für die Behandlung des Politaktivisten Pjotr Wersilow in der Berliner Klinik Charité eingesetzt. So auch diesmal.
Die weitere Behandlung Nawalnys in der Charité wurde auf ausdrücklichen Wunsch Berlins auf höchster Ebene ausgemacht, und am 22. August wurde Nawalny dann mit der Genehmigung russischer Behörden mit einem Charterflug von Omsk nach Berlin ausgeflogen. Dem im Koma liegenden Patienten wurde der Empfang in der deutschen Hauptstadt mit einer Eskorte aus 14 Fahrzeugen gewährt, er selbst wurde in einem Rettungswagen der Bundeswehr transportiert. Am selben Tag wurde der langjährige Chef der Partei Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, in der Bild-Zeitung mit den Worten zitiert: "Das Putin-Regime geht über Leichen" und forderte in diesem Zusammenhang erneut die Absage an Nord Stream 2. Diese Forderung gehört seit Jahren zur Hauptmaxime der einstigen Umweltpartei.
Acht Tage nach Nawalnys Zusammenbruch schreibt der Spiegel mit Verweis auf Recherchen der britischen "Enthüllungsplattform" Bellingcat, dass die Charité die Proben von Alexei Nawalny in das britische Militärlabor Porton Down und in ein toxikologisches Labor der Bundeswehr verschickt habe. Verdacht: Der russische Politaktivist könnte mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet worden sein. Wenige Tage später, am 2. September, teilte ein Militärarzt dem Bundessicherheitskabinett "schockierende Ergebnisse" der Untersuchung mit. Innerhalb kurzer Zeit vermeldete die Bundeskanzlerin Angela Merkel höchstpersönlich:
Bei Alexei Nawalny wurde der zweifelsfreie Nachweis eines chemischen Nervenkampfstoffes der Nowitschok-Gruppe erbracht.
Russland wird seitdem die grausame Vergiftung eines Kreml-Kritikers vorgeworfen. Es folgte ein "Blitzkrieg" in den Medien, wobei nicht nur die fast fertiggestellte Pipeline unter Beschuss genommen wird. Auch die Frage der Zweckmäßigkeit der deutschen "Sonderbehandlung" Russlands steht seither wieder im Raum.
Chemiewaffe Nowitschok: von den Skripals zum Fall Nawalny
Vor allem soll Russland wiederholt die internationalen Gesetze zum Verbot chemischer Waffen missachtet haben. Als Referenz wurde auf den Fall Sergei Skripal – der angeblichen Nowitschok-Vergiftung des ausgetauschten Ex-Doppelagenten und dessen Tochter im britischen Salisbury im Jahre 2018 – verwiesen. Die Beweisführung im Fall Skripal erfolgte nicht im juristischen, sondern im politisch-medialen Raum – ähnlich wie jetzt bei Nawalny. Für den Nowitschok-Nachweis zog Großbritannien die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) im Rahmen einer bilateralen technischen Kooperation zur Hilfe – unter dem Ausschluss Russlands.
Am 10. September machte die Botschafterin der Vereinigten Staaten bei der NATO, Kay Bailey Hutchison, in einem Interview mit der Washington Post bemerkenswerte Aussagen in Bezug auf mögliche Sanktionen gegen Nord Stream 2:
Die Ausweisung der russischen Diplomaten aus fast nahezu allen NATO-Staaten war ein Vergeltungsschlag (wegen des "Falls Skripal", Anm. der Red.). Jetzt geht es darum, ob Sanktionen richtig sein werden. Werden die Deutschen Nord Stream 2 absagen? Ich hoffe, sie werden es tun. Aber das müssen sie selbst machen.
Am Montag verkündete die Bundesregierung, im Fall Nawalny läge ein "schwerwiegender Verstoß gegen das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ)" vor. "Die Bundesregierung hat daher die Organisation für das Verbot chemischer Waffen in die Analyse von Beweismitteln im Fall Nawalny einbezogen", erklärte Pressesprecher Steffen Seibert gegenüber den Medien.
Grüne: Deutschland ist am Zug
Am Dienstag veröffentlichte die FAZ den Artikel "Grüne planen Sanktionen gegen Nord Stream 2". Der Artikel ist bemerkenswert: Das Material sei exklusiv, die Mitvorsitzende der Grünen, Annalena Baerbock, habe dem Blatt Details aus einem konkreten juristischen Vorhaben zum Stopp der Pipeline vorgelegt. Das wichtigste Ziel – der bereits am Projekt zweifelnden Bundesregierung "nachzuhelfen". Am 7. September teilte die Bundesregierung mit Verweis auf die Kanzlerin mit, dass ein Ausstieg aus dem Projekt angesichts des Falls Nawalny "nicht mehr auszuschließen" sei.
Wenn Deutschland offiziell nun anerkennt, dass von Nord Stream 2 auch deshalb eine Gefahr ausgeht, weil es den russischen Mordapparat mit finanziert, und wenn die übrigen EU-Länder dieser Anschauung folgen (die meisten tun das ohnehin), gibt es in den Regelwerken der EU Handhaben zum Stopp der Leitung", schrieb die FAZ und verwies wieder auf den Vorfall von Salisbury.
Dieser bildet nun einen wichtigen juristischen Ansatzpunkt: Unter dessen Eindruck wurde am 15. Oktober 2018 das EU-Sanktionsregime gegen chemische Waffen beschlossen. Laut Paweł Jabłoński, dem polnischen Außenminister, sei dieser Beschluss auch im Zusammenhang mit Nawalny und Nord Stream 2 "die beste Vorgehensweise". Polen betrachte "diese Tat als einen weiteren guten Grund, Nord Stream 2 zu stoppen". Seit je gehören Polen und die baltischen Staaten in der EU zu den erbittertsten Gegnern der Pipeline.
Der Fraktionssprecher der Grünen für Osteuropafragen, Manuel Sarrazin, kommentierte gegenüber der FAZ, der Weg zu einem Stopp für Nord Stream 2 könne tatsächlich über das EU-Chemiewaffenregime führen. "Das geht grundsätzlich." So ein Beschluss müsse aber "verhältnismäßig sein", um vor dem Europäischen Gerichtshof bestehen zu können.
Es gibt aber auch andere Wege. Laut dem Europaabgeordneten der Grünen, Reinhard Bütikofer, sei Nord Stream 2 von der zuständigen deutschen Regulierungsbehörde, der Bundesnetzagentur, noch nicht zertifiziert. Deshalb müsse die Bundesnetzagentur der Leitung am Ende "die Zertifizierung verweigern", und schließlich müsse die EU-Kommission prüfen, ob die Bundesnetzagentur "ihren Job macht".
Falls sich zeigen sollte, dass die deutschen Behörden Russland zu weit entgegenkommen, muss sie ihre Zustimmung verweigern", so Bütikofer in der FAZ.
Noch ist die EU allerdings nicht so weit, das Projekt, das sie vor einem guten Monat in einer Protestnote gegenüber den USA verteidigte, wegen des Nawalny-Falls zu kippen. "Dies ist keine Frage an sie (die EU-Institutionen), sondern an die Staaten der Gemeinschaft, die dieses Projekt fördern", sagte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, am Montag auf der Sitzung des EU-Parlaments. In einem Interview verdeutlichte Borrell seine Position:
Nord Stream 2 ist kein europäisches Projekt. Ich muss sagen, dass die [Europäische] Kommission nie einen starken Enthusiasmus für Nord Stream 2 gezeigt hat", sagte Borrell und fügte hinzu, dass das Schicksal des Projekts 'in der Hand der Deutschen liegt'.
Trotz dieser Bemerkungen scheint das Ziel der Grünen derzeit alles andere als aussichtslos. Dem Rat der US-Botschafterin bei der NATO folgend, müssten die Deutschen die Absage an dem Projekt weder auf US- noch auf EU-Druck erteilen, sondern "dies selbst tun". Bislang habe die Bundeskanzlerin in der Sache richtig gehandelt und "mutige Schritte" gewagt, lobte Hutchison.
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