Nachdem ihr Mann verhaftet worden war, trat die zur Oppositionsführerin wider Willen gewordene Haus- und Ehefrau von Videoblogger Sergej Tichanowskij am 9. August als Präsidentschaftskandidatin gegen den langjährigen Machthaber Alexander Lukaschenko an, und verlor offiziellen Angaben zufolge deutlich. Umgehend wurde der Vorwurf geäußert, die Wahlen seien manipuliert worden, und eigentlich habe sie, die "Jeanne d'Arc von Minsk", wie sie manche deutsche Medien nannten, die Wahl klar für sich entschieden.
Als daraufhin Proteste in Minsk und einigen anderen Städten ausbrachen, versuchte der Präsident, die Demonstrationen mit äußerster Härte zu unterdrücken. Davon ließ sich die aufgebrachte Menge aber nicht einschüchtern und protestierte friedlich weiter. Tichanowskaja fühlte sich indessen bedroht und setzte sich nur zwei Tage nach den umstrittenen Wahlen nach Litauen ab. Von dort aus rief sie die Europäische Union auf, dem Vorbild der weißrussischen Opposition zu folgen und das Wahlergebnis nicht anzuerkennen.
Seitdem traf sie sich mit Vertretern der EU, der USA und dem berüchtigten millionenschweren französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy, der bereits bei den Umstürzen in Libyen und der Ukraine in Erscheinung getreten war. Insbesondere die litauische Regierung von Ministerpräsident Saulius Skvernelis prescht auf internationaler Ebene mit Sanktionsforderungen vor und sorgt mit polnischer Unterstützung dafür, dass die weißrussische Regierung innerhalb der EU-Strukturen delegitimiert wird.
Die EU erklärte schließlich, das Wahlergebnis nicht anzuerkennen, und verurteilte die Gewalt gegen Demonstranten. Auch Sanktionen wurden beschlossen.
Der litauische Außenminister Linas Linkevičius erklärte dann am 3. September in einem Gastbeitrag für Politico, dass Lukaschenko "nicht mehr länger Präsident von Belarus" sei.
Selbst mit der Erklärung der Nichtanerkennung des Wahlergebnisses in Weißrussland durch die EU in der Hinterhand bedeutet das allerdings nicht automatisch, dass Lukaschenko nicht mehr Präsident ist. Er war der Amtsinhaber vor den Wahlen, und wenn es Manipulationen gegeben haben sollte, dann ist trotzdem nicht klar, wie viele Stimmen Tichanowskaja erhalten hat. Nur weil es die Opposition behauptet, ist noch lange nicht erwiesen, dass sie die Wahlen tatsächlich gewonnen hat.
Das hinderte das litauische Parlament aber nicht daran, Tichanowskaja am Donnerstag nach dem venezolanischen Vorbild des selbst ausgerufenen "Interimspräsidenten" Juan Guaidó als "gewählte" und "rechtmäßige" (Übergangs-) Präsidentin von Belarus anzuerkennen. Vilnius rief auch andere EU-Staaten auf, diesen Schritt zu gehen.
Worauf diese Anerkennung abzielt, ist nach der Erklärung des Parlaments in Vilnius offensichtlich. Der NATO-Staat möchte verhindern, dass Lukaschenko unter Druck neue Abkommen mit Russland unterzeichnet und möglicherweise den Unionsstaat nach Jahren der Verzögerung umsetzt. Solche Abkommen kämen einer "De-facto-Annexion" Weißrusslands gleich, heißt es in der Erklärung.
Mit Guaidó wurde bereits einen Präzedenzfall geschaffen, dass ein Oppositioneller von einigen Ländern als "rechtmäßiger" Präsident anerkannt wird. Venezuela ist aber weit weg. Litauen hingegen ist EU- und NATO-Mitglied, das versucht, ein weiteres osteuropäisches Land – Weißrussland – in diese Strukturen einzubinden. Was dafür nötig ist, sind Politiker in Regierungsverantwortung, die diesen Kurs fahren werden. Selbst wenn man eine Hausfrau zur Präsidentin macht, die sich nach eigener Auskunft noch nie für Politik interessiert hat und noch vor Kurzem sagte, dass sie ihre "Familie zurückhaben und wieder Frikadellen braten" möchte.
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