Zwischen Frankreich und Russland: Imperiale Zerreißprobe der Türkei im Mittelmeer?

Der Kampf um das Erdgas im östlichen Mittelmeer und der Libyenkonflikt – zwei Konflikte, die auf den ersten Blick unabhängig scheinen. Und zwar sowohl qualitativ zum Gegenstand und der Intensität des Konflikts, als auch quantitativ beim Kriegsmaterial und den Menschenleben.

von Havva Kökbudak

Seitdem die Türkei Explorationsschiffe in die Region südöstlich von Zypern zwischen Kastelorizo (türk. Meis) und Kreta geschickt hat, um ebenfalls ihre Ansprüche auf das Gas geltend zu machen, steigt die Spannung vor Ort. Zwar hat die Türkei inzwischen das Erkundungsschiff Oruç Reis abgezogen, doch eine Flotte von Kriegsschiffen durchpflügt jetzt die Gewässer des östlichen Mittelmeeres.

Die Türkei hat erhebliche politisch wie ökonomisch nachvollziehbare Schwierigkeiten – als "das Land mit der längsten Mittelmeerküste", so der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan –, den rechtlichen Status Quo zu akzeptieren. Die Nachbarländer Griechenland und Zypern sollen vom Erdgas, das praktisch "vor der Nase" der Türkei liegt, profitieren und die Türkei nicht? Doch die Türkei ist in dieser Region "allein auf weiter Flur", wie man so sagt, ganz im Gegensatz zu Griechenland und Zypern, die beide EU-Mitgliedsländer sind. Die Kernländer der Europäischen Union (EU), Frankreich und Deutschland, bezeichnen die türkischen Erdgasambitionen als "illegal" und fordern die Türkei auf, die Schiffe zurückzuziehen und die Lage nicht eskalieren zu lassen. Frankreich ist dabei eifriger gegen die Türkei als Deutschland, das auf Vermittlung und Gespräche zwischen den beiden rivalisierenden NATO-Partnern setzt. Die EU als Ganzes ist in diesem Zwist gespalten: offiziell wurde der Türkei mitgeteilt, dass ihre Erkundungsaktionen illegal seien und sie deswegen bald mit Extrasanktionen rechnen müsse. Nur Deutschland versucht, aus Angst vor einem weiteren Flüchtlingszustrom mit aller Kraft zu vermitteln. Die USA verhalten sich eher zurückhaltend, obwohl der US-Präsident Donald Trump sich sehr von dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan eingenommen gezeigt und sich in diesem Konflikt hinter diesen gestellt hatte. Doch dies hinderte die US-Regierung am Ende nicht daran, das seit 1987 gültige Waffenembargo gegen die Republik Zypern aufzukündigen – oder zumindest für ein Jahr auszusetzen. Dies müsste der Türkei ein Hinweis sein, wie weit Unterstützungsbekundungen seitens der USA derzeit reichen können.

Frankreich stellt sich der Türkei jedoch nicht nur dort entgegen. Auch in Libyen operieren beide in gegensätzlichen Lagern. Aus diesem Grunde ist es zu kurz gegriffen, wenn wir der gängigen Meinung folgen, die da besagt, die Türkei und Griechenland wären ewige Feinde, und die Situation im östlichen Mittelmeer allein auf diese Rivalität reduzieren. 

Libyen hat auf Frankreichs Agenda seit den Massendemonstrationen des "Arabischen Frühlings" einen besonderen Platz. Auch in Libyen brachen Proteste gegen Muammar al-Gaddafi aus, der damals Libyen schon seit vier Dekaden regierte. Kurze Zeit nach Beginn der Proteste wurde daraus ein Bürgerkrieg. Und sehr bald danach wurde im März 2011 unter aktiver Mitwirkung Frankreichs eine NATO-Intervention organisiert, in deren Folge Gaddafi gelyncht wurde. Nach anfänglichen halbherzigen Versuchen, eine Friedenkonferenz auf die Beine zu stellen, wurde das Land rivalisierenden Gruppen überlassen, die dann von verschiedenen Mächten mit verschiedenen Interessen mit Waffen und Söldnertruppen aufgerüstet wurden – unter ihnen auch Frankreich und die Türkei. Frankreich unterstützt den "abtrünnigen" General Chalifa Haftar mit seiner LNA (National Liberation Army), der in der Kyrenaika im Osten und Süden Libyens erstarkt ist, sein Hauptquartier in Bengasi hat und im Juni dieses Jahres schon an den Toren von Tripolis stand. In Tripolis ist die von der UNO anerkannte Regierung der Nationalen Übereinkunft oder auch "Einheitsregierung", aber immer noch eine Übergangsregierung (Government of National Accord – GNA) mit Fayiz as-Sarradsch als Regierungschef, der von der Türkei unterstützt wird.  Doch was wollen Frankreich und die Türkei eigentlich in Libyen? Es geht hier sicherlich nicht um einen bloßen Machtkampf zwischen zwei rivalisierenden Regierungsanwärtern.

Interessen Frankreichs in Libyen

Frankreich hatte schon im März 2011 sofort den Nationalen Übergangsrat der Rebellen als Alternative zu Gaddafis Herrschaft und als legitime Regierung Libyens anerkannt und auch die internationale Gemeinschaft gedrängt, es Frankreich gleichzutun. Nachdem das geschehen war, hatte Frankreich auch auf eine sofortige NATO-Militärintervention gedrängt. Dies  hatte alles unter der Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy stattgefunden. Frankreich hatte sich damals als die treibende Kraft der NATO-Operation in Libyen gesehen.

Tatsächlich schien damals den USA die Kontrolle teilweise entglitten zu sein. Doch die US-Außenministerin Hillary Clinton hatte sich per E-Mail-Verkehr mit ihrem Berater Sidney Blumenthal auf dem Laufenden gehalten. Aus einer dieser E-Mails, die eigentlich hätten geschützt sein sollen, aber 2016 über WikiLeaks an die Öffentlichkeit kamen, werden wir heute nachträglich noch einmal an die französischen Interessen in Libyen erinnert. Die Interessen Frankreichs waren damals und sind heute noch:

1. Der Wunsch, einen größeren Anteil an der libyschen Ölproduktion zu erhalten,

2. Den französischen Einfluss in Nordafrika auszuweiten,

3. Die innere politische Lage in Frankreich zu verbessern,

4. Dem französischen Militär die Möglichkeit zu bieten, seiner Position in der Welt wieder Geltung zu verschaffen,

5. Die Sorgen seiner Berater über Gaddafis langfristige Pläne zu addressieren, Frankreich als dominierende Macht im frankophonen Afrika abzulösen."

(nach der Quelle: WikiLeaks, Mails von Sidney Blumenthal an Hilary Clinton vom 02.04.2011) 

Ziel Nr. 5 ist mit der Ermordung Gaddafis erreicht worden, es sei denn, ein anderer Staatenlenker in Afrika übernimmt Gaddafis Mission. Was das Erdöl – Ziel Nr. 1 – betrifft, fasst es Lisa Sturm in ihrer Studie "Frankreich und der Libyen-Konflikt" für den Informationsdienst Militarisierung (IMI)wie folgt zusammen: 

Etwa 10 Prozent von diesem gingen 2018 an Frankreich. Frankreichs Konzern Total – das viertgrößte Erdölunternehmen der Welt und das größte Unternehmen Frankreichs – liefert sich dabei mit dem italienischen Förderkonzern Eni, welcher lange Zeit eine Monopolstellung im Erdölgeschäft Libyens hatte, in den letzten Jahren zunehmend einen Kampf um Marktanteile und Zugänge zum libyschen Öl. Total fördert bereits seit über 60 Jahren Erdöl in Libyen und auch in zahlreichen anderen afrikanischen Staaten gehört es zu den führenden Erdölförderern. Im Jahr 2019 kamen ca. 6 Prozent der europäischen Erdölimporte aus Libyen. Doch die staatliche libysche Ölfirma (NOC) behielt ca. 90 Prozent des geförderten Öls in Libyen. Dies machte die Bedingungen für ausländische Konzerne durchaus schwierig, denn es minimierte ihre Profite und verhinderte einen größeren eigenen Anteil am Geschäft.

Also auch für profitablere Erdölgeschäfte musste Gaddafi entfernt werden. 

Darüber hinaus gehen Experten davon aus, dass mindestens Zweidrittel des libyschen Öls noch unentdeckt sind. In Libyen liegen somit vermutlich die größten Erdölvorkommen Afrikas. Diese Angaben sollten ausreichen, um die Bedeutung der lybischen Erdöls – nicht nur für Frankreich – deutlich zu machen. 

Sarkozys Nachfolger François Hollande hatte danach alle seine Kräfte zur Befriedung der libyschen Gemengelage aufwenden müssen, denn eine Friedenskonferenz war mit islamistischen Terroristen, die sich unter den als "legitim" anerkannten irregulären Milizen befanden, nicht zu bewerkstelligen. Immer noch war der international anerkannte Nationale Übergangsrat die legitime Vertretung Libyens, auch für Hollande. 

Emmanuel Macron, seit Mai 2017 Präsident, setzte dort an, wo Nicolas Sarkozy aufgehört hatte, nur mit einem Unterschied: Anstatt die international anerkannte Regierung zu unterstützen, schlug er sich auf die Seite des "abtrünnigen" Generals Haftar. Obwohl Frankreich offiziell immer noch die durch die UNO anerkannte Regierung in Tripolis unterstützt, hatten sich vorher schon Gerüchte verbreitet, dass Frankreich unter der Hand eigentlich Haftar helfen würde. In einem von der UNO veröffentlichten Bericht im Mai 2020 wurde bekannt, dass in Libyen eine "Geheimmission privater Einsatzkräfte im Gange" sei, an welcher angeblich auch Frankreich beteiligt wäre. Das Ziel dieses sogenannten "Projekt Opus" sei es angeblich, Waffenlieferungen der Türkei an Regierungschef Fayiz as-Sarradsch zu stoppen – und damit automatisch auch General Haftar zu unterstützen. Seitdem wird Frankreich auch in den Nachrichten als Unterstützer von Haftar gezählt, nicht mehr als Unterstützer von as-Sarradschs "Einheitsregierung".

Dass Frankreich nun inoffiziell General Haftar den Rücken stärkt, hat damit zu tun, dass dieser alle wichtigen Häfen für den Erdölexport und die wichtigsten Erdölfelder besetzt hat, insbesondere in der Stadt Sirte. Er hat die Kontrolle über das Erdöl Libyens und hat diese Kontrolle auch gegen die Regierung in Tripolis eingesetzt: Er hat dem Land praktisch die Haupteinnahmequelle gekappt, sodass die ohnehin schlechten Lebensbedingungen der libyschen Bevölkerung unerträglich wurden. Damit hat er sich ins eigene Fleisch geschnitten, denn das Volk protestierte dagegen – nicht nur in Tripolis. Dies hat die Stabilität auch in seiner eigenen Herrschaftszone, der Kyrenaika und im Süden Libyens, enorm gefährdet. Apropos Süden: Im Süden grenzen Länder an Libyen, die für den französischen Einfluss in Afrika von entscheidender Bedeutung sind: der Tschad, Niger und Mali – alles Länder, an denen Frankreich ein starkes wirtschaftliches, politisches und militärisches Interesse hat, und somit für Frankreich also ein Grund mehr, Haftar zu unterstützen. 

Interessen der Türkei in Libyen

Wie Frankreich hat auch die Türkei versucht, aus dem Arabischen Frühling Kapital zu schlagen. Auch sie führte aktiv ihre eigenen Experimente durch, um der türkischen Regierung genehme Kooperationspartner in den jeweiligen arabischen Ländern an die Macht zu hieven. Dabei nutzte und nutzt sie noch heute sowohl das historische Erbe der Osmanen vom Roten Meer bis zum Atlantik als auch die Religion, den Islam, mit dem größten sunnitisch-islamistischen Netzwerk der Region, den al-iḫwān al-muslimūn, den Muslimbrüdern. Die in der Türkei derzeitig regierende Partei, die AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi – Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) ist den Muslimbrüdern ideologisch verbunden.

Eine wichtige Station dieses Experiments war Ägypten. Dort kam bei den ersten Wahlen nach den Massendemonstrationen und dem Sturz Husni Mubaraks eine führende Figur der Muslimbruderschaft in Ägypten an die Macht, Mohammed Mursi, Vorsitzender der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei. Mursi wurde am 30. Juni 2012 Präsident und exakt ein Jahr später wurde er – wiederum nach Massenprotesten – durch einen Militärputsch unter Führung des Generals Abd al-Fattah as-Sisi aus dem Amt gejagt und inhaftiert. Er starb 2019 in Haft. Das ägyptische Experiment und die Gelegenheit, türkische Interessen in den ägyptischen Entscheidungsmechanismen gesichert zu wissen, waren gescheitert. Ähnliche Versuche laufen in Tunesien, Marokko, Algerien und – in Libyen. Einer sunnitisch-islamistischen Regierung auch in Syrien an die Macht zu verhelfen, war auch unter den Zielen der türkischen Außenpolitik, aber auch dies kann inzwischen als gescheitert gelten. 

Doch mit Ägypten steht die Türkei seitdem auf Kriegsfuß. Um den Bogen nach Libyen zu schlagen: Ägypten ist gemeinsam mit Frankreich sowohl in der Haftar-Front als auch an der Griechenland-Zypern-Front. Denn Griechenland hat im August 2020 zwei Abkommen zur Festlegung der Ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) im östlichen Mittelmeer jeweils mit Italien und Ägypten abgeschlossen. Mit diesen zwei Abkommen erkennen die drei Staaten an, dass die griechischen Inseln einen Festlandsockel und somit eine Wirtschaftszone haben. Griechenland konterte damit dem türkischen Abkommen mit Tripolis vom November 2019. Die ägyptisch-griechische Zone überlappt nun die libysch-türkische.

Die Unterstützung der Muslimbrüder durch die Türkei stößt einem weiteren Land sauer auf, nämlich Saudi-Arabien. Der in der saudi-arabischen Botschaft in Istanbul ermordete Journalist Jamal Khashoggi war übrigens auch ein Anhänger der Muslimbruderschaft. Auch Saudi-Arabien ist nun in Libyen auf Seiten Haftars. Die arabische Anti-Türkei-Allianz ist mit den Vereinigten Arabischen Emiraten in Libyen und im Mittelmeerraum insgesamt gewachsen. 

Das Abkommen hatte die Türkei natürlich mit der as-Sarradsch-Regierung, einer Übergangsregierung, abgeschlossen. Im Streit um die Gasvorkommen setzt die Türkei jetzt vor allem auf Libyen. Im Gegenzug für die Modifikation der Seegrenzen unterstützt die Regierung in Ankara das unter Druck geratene Kabinett von Ministerpräsident as-Sarradsch mit Waffen und Milizen, vor allem auch mit islamistischen Söldnern, die sie aus dem besetzten syrischen Afrin und auch aus den syrischen Flüchtlingen in der Türkei rekrutiert. Dass die Al-Qaida nahestehende Islamische Kampfgruppe Libyens an den Aufständen zum Sturz Gaddafis teilgenommen hat, ist belegt, doch die Muslimbrüder Libyens, die unter Muammar al-Gaddafi nicht wenig leiden mussten, blieben – ähnlich wie in Ägypten – wohl im Hintergrund. 

Soweit bekannt ist, hat zwar Fayiz as-Sarradsch keinen Muslimbrüder-Hintergrund. Die Muslimbrüder hatten unter Muammar al-Gaddafi kein leichtes Leben und griffen natürlich nach seiner Ermordung nach der Macht; nicht der Präsident, aber der Innenminister Fathi Baschagha, der kurzfristig aufgrund des unverhältnismäßigen Vorgehens der Polizei gegen Protestierende aus dem Amt genommen worden war, ist ein Muslimbruder; er war in eben der kurzen Zeit, in der suspendiert worden war, sofort in die Türkei geflogen, um einen eventuellen Sturz as-Sarradschs und seine Machtübernahme in Libyen zu besprechen.

Ein Name, Esam Omeish, selbst ein lybischer Muslimbruder, verbandt die in den USA organisierten Muslimbrüder der Muslim American Society MAS, deren Vorsitzender Omeish war, mit der damaligen US-Regierung unter Barack Obama und Hilary Clinton, damals US-Außenministerin. Sein Bruder Mohammad Omeish ist ein Berater des jetzigen internationalen anerkannten Präsidialrats in Tripolis. Gemäß den Recherchen von Al Marsad gilt Esam Omeish als Schlüsselfigur des Muslimbrüder-Netzwerks nicht nur in den USA, sondern weltweit:

Das bedeutet, dass sich die der Muslimbruderschaft angeschlossenen Institutionen, Verbände, Unternehmen und Körperschaften in der vergangenen Periode in Lobbygruppen für die geförderten Politiker verwandelten, in der Hoffnung, eine pro-muslimische Bruderschaftspolitik bei den amerikanischen Entscheidungsträgern durchzusetzen. Dies könnte vielleicht einige der Standpunkte der Obama-Regierung gegenüber Libyen erklären. Unter der Trump-Administration und mit der republikanischen Mehrheit sowohl im Kongress als auch im Senat änderte sich die Situation jedoch.

Esam Omeish kämpft derweil in den USA und vor der libyschen UN-Mission UNSMIL um die Verurteilung Chalifa Haftars als Kriegsverbrecher und versucht zu beweisen, dass Haftar kein Partner für den Frieden ist. 

Die Muslimbrüder sind in Libyen in der Partei für Gerechtigkeit und Aufbau organisiert. Das Wort "Gerechtigkeit" im Parteinamen scheint als Zeichen für die Nähe zur Muslimbruderschaft und die Partei ein Mittel zum Zweck in Kampf um die Macht zu sein.

Die Türkei ist also sehr rege damit beschäftigt, mittels der Muslimbrüder ein neo-osmanisches Netz über die Region des Nahen und Mittleren Ostens zu spannen und damit die herbeigesehnte Wiederbelebung eines neo-osmanischen Reiches zu erwirken. Ohne Frage will die regierende AKP der Türkei neben dem Erdgas südwestlich von Zypern auch ein Stück vom libyschen Erdölkuchen sichern.

Die Interessen Russlands in Libyen

Ob es sich mit Blick auf die Wagner-Einheiten, die seit 2017 in Libyen aktiv sind, von "Interessen Russlands" sprechen lässt, ist nicht eindeutig. Russland ist offiziell nicht in Libyen involviert. Private Söldner sind eben keine staatlichen Armeesoldaten. Das will nicht heißen, dass Russland nicht auch an einem für Russland akzeptablen Ausgang des Libyen-Konflikts interessiert ist. Offiziell ist Russland nicht dabei, auch wenn in den Medien Russland immer auf Seiten Chalifa Haftars neben Frankreich mitgenannt wird. Russland wird ein "getarnter Stellvertreterkrieg" vorgeworfen. Somit haben die Medien hierzulande Russland "enttarnt". Doch die Hintergründe der russischen Libyen-Politik bleiben unerwähnt.

Das Chaos, in dem sich Libyen heute befindet, ist nach russischem Standpunkt auf die NATO-Intervention im Jahre 2011 zurückzuführen. Zu Libyen hatte Russland bis zu jenem Zeitpunkt fest verwurzelte politische, wirtschaftliche und militärische Beziehungen, die mit einem Schlag auseinandergefielen. Verträge, die Gaddafi mit Russland im Energie-, Infrastruktur- und Gesundheitssektor unterschrieben hatte, wurden von heute auf morgen für ungültig erklärt. Eine Forderung Russlands vor dem Militäreinsatz in Libyen, die Vereinten Nationen über einen Waffenstillstand abstimmen zu lassen, wurde übergangen. Die NATO übernahm am 31. März 2011 das Kommando über den Militäreinsatz zur angeblichen Durchsetzung der UN-Resolution 1973 mit dem Anspruch Responsibility to Protect. Die am Einsatz beteiligten Streitkräfte unterstanden dem NATO-Kommando. Russland blieb auch hier von den Entscheidungsmechanismen ausgeschlossen. 

Die Söldnertruppe kämpft auf Seiten General Chalifa Haftars, der "Gegenregierung" zum international anerkannten Präsidialrat as-Sarradschs. Haftar hat zwar einige Jahre in den USA gelebt, nachdem er bei Gaddafi wegen eines misslungenen Tschad-Einsatzes in Ungnade gefallen war, doch studiert hatte er in Moskau, kann also neben Englisch auch fließend Russisch sprechen. Die US-Regierung unter Trump kehrte Haftar den Rücken, weil sie über die "russische Ausbeutung des Konflikts auf Kosten des libyschen Volkes" verärgert war. Trump klopfte der Türkei auf die Schulter und sprach ihr sein Lob aus, weil sie die Russen in Libyen bekämpft und sie zurückgedrängt habe. 

Besonderes Unbehagen bereiten Russland die islamistischen Söldner im Lager der "international anerkannten" Übergangsregierung, die sogenannte "Einheitsregierung" in Tripolis. Islamistische Gruppierungen, die im Bürgerkrieg 2011 gekämpft hatten und zum Sturz Gaddafis beigetragen zu haben beanspruchten, stellten Machtansprüche gegenüber dieser Übergangsregierung. Auch die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) mischte sich in die Kämpfe ein und rief im Herbst 2014 dort sogar ein Emirat aus. Sirte, eine der wichtigsten Städte für den libyschen Handel, war kurzfristig zur Hochburg der IS geworden. 

Die Bekämpfung der Islamisten war von Anbeginn an die erklärte Mission von Chalifa Haftar. Die im Jahr 2014 mehrheitlich gewählte und auch international anerkannte Regierung unter Abdullah al-Thenni wurde von islamistischen Milizen gestürzt und musste nach Tobruk fliehen. So entstand die Zweiteilung der lybischen politischen Systems – wenn man es als solches bezeichnen will. Erst im nächsten Anlauf wurde Fayiz as-Sarradsch gewählt und gilt nun seinerseits als "international anerkannt". Tausende Al-Qaida-, Al-Nusra- und IS-nahe islamistische Milizen sind derzeit bestrebt, sich unter der "international anerkannten" Regierung einen Platz in der libyschen Armee zu sichern.

Aus russischer Sicht darf unter keinen Umständen die gleiche Lage entstehen wie seinerzeit in Syrien, als das Land von innen und von außen mit islamistischem Terror überzogen wurde, in den auch russlandfeindliche islamistisch-terroristische Elemente aus dem Kaukasus und Zentralasien verwickelt waren. 

Hat Russland denn kein Interesse am libyschen Erdöl? Dazu hatte Wladimir Putin, damals Ministerpräsident der Russischen Föderation, Folgendes gesagt:

Übrigens lagern in Libyen die größten Ölreserven Afrikas. Den Gasvorräten nach nimmt Libyen den vierten Platz auf dem Kontinent ein. Da stellt sich die Frage, ob das nicht der Hauptgrund für das Interesse jener ist, die jetzt dort tätig sind." (RIA Nowosti, 26.04.2011)

Alle, die dort "tätig" sind, werden wohl Interessen in dieser Hinsicht haben. 

Ein wichtiges Anliegen Russlands dürfte es auch sein, die Türkei in ihrer Außenpolitik in Sicht- und Reichweite zu halten. Denn Russland und die Türkei haben unterschiedliche Interessen sowohl in Libyen wie in Syrien, sind also sozusagen Partner im Widerstreit. Die imperialen Anwandlungen des NATO-Partners Türkei, die sich zeitweise in Aktionen und Rhetorik erkennen lassen und die Bündnispartner zur Weißglut treiben, liegen ebenfalls keineswegs im russischen Interesse. 

Ausblick

Inzwischen wissen wir: Beide Regierungen, sowohl as-Sarradsch in Tripolis  als auch Abdullah Thenni in Tobruk, haben den anhaltenden Protesten der Bevölkerung nicht standgehalten: Abdullah Thenni hat schon am letzten Sonntagabend seinen Rücktritt angeboten, Fayiz as-Sarradsch hat den seinen gestern angekündigt. Nach dpa-Meldungen planen die UNO und die Bundesregierung nun ein Nachfolgetreffen zum Libyen-Gipfel von Januar 2020. 

Ein vom französischen Präsidenten Macron arrangiertes Treffen zwischen Fayiz as-Sarradsch und Chalifa Haftar in Frankreich soll nach den Angaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı schon im Vorfeld gescheitert sein, da as-Sarradsch die Einladung wohl nicht angenommen hätte. Das Thema Libyen scheint nun unter direkter Ägide von Macron zu liegen; Macron habe die Angelegenheit an sich gezogen, da der Außenminister Jean-Yves Le Drian seit dem Treffen der beiden libyschen Kontrahenten in La Celle-Saint-Cloud nahe Paris im Juli 2017 mit all seinen Versuchen gescheitert sei, Chalifa Haftar in den politischen Prozess zu integrieren, so wertet Anadolu Ajansı. 

Die Türkei und Russland sollen in dieser Situation einer Waffenruhe näher gekommen sein.

Bei den letzten Gesprächen haben wir uns bezüglich einer Waffenruhe und eines politischen Prozesses etwas mehr angenähert",

sagte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu am Mittwochabend dem Sender CNN Türk.

Wenn nun tatsächlich eine Annäherung stattgefunden haben sollte, dann wird die Türkei nicht umhin können, die Teilnahme Chalifa Haftars an den Verhandlungen um Libyen zu akzeptieren, da Russland voraussichtlich darauf bestehen wird, ebenso wie Frankreich.

Libyen könnte ein weiterer Höhepunkt in der Isolierung der Türkei sein.  Einige neo-osmanische Pläne mussten bereits begraben werden: in Ägypten musste der Muslimbruder Mursi gehen, in Syrien blieb Baschar al-Assad an der Macht und in Nordsyrien verständigten sich die Kurden unter russischer Vermittlung auf einen Plan ihrer Annäherung zur syrischen Regierung; im östlichen Mittelmeer steht die Türkei allein mit ihren Forderungen gegen den Rest der Welt – auch wenn ihre Ansprüche berechtigt wären, scheint kein diplomatischer Beistand in Sicht. Ein Rückschlag kam auch von den arabischen Staaten wie den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain, die unter Missachtung der ungelösten palästinensischen Frage und unter Inkaufnahme dieses Vertrauensbruchs gegenüber den Palästinensern, mit Israel eine Normalisierung der Beziehungen beschlossen haben. Die Türkei zeigt sich im Israel-Palästina-Konflikt solidarisch mit der islamistischen Hamas – auch ein Ableger der Muslimbruderschaft. US-Präsident Trump seinerseits spielt mit dem Gedanken, die Muslimbrüder als Terrororganisation einzustufen. 

Der Vertrag, den die Türkei mit der Übergangsregierung unter as-Sarradsch im Mittelmeer für Öl und Gas als Gegenleistung für militärische Unterstützung abgeschlossen hat, wird wahrscheinlich für ungültig erklärt werden, so dass ihr ein Druckmittel – wenn es denn je eines war – abhandenkommen wird. Die Erdoğan-Regierung wird vermutlich versuchen, der türkischen Bevölkerung die außenpolitischen Bauchlandungen als Erfolge oder als Folgen von Intrigen und Neidattacken äußerer Mächte zu vermitteln, so lange es noch geht.

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