Fall Nawalny: Russische Ärztekammer will gemeinsame ärztliche Beratung, Nawalnys Frau Julia lehnt ab

Nachdem die deutsche Politik weitreichende politische Erklärungen im Zusammenhang mit Befunden aus einem Labor der Bundeswehr abgab, wendet sich ein russischer Top-Arzt an die Bundesärztekammer und bietet Zusammenarbeit an. Die deutsche Antwort fiel verhalten aus.

Während deutsche Politiker von Russland Aufklärung des für sicher gehaltenen Giftmordversuchs am Oppositionellen Alexei Nawalny mit einem chemischen Kampfstoff fordern, wendet sich der Vorsitzende der Nationalen Medizinkammer Russlands Leonid Roschal mit einem Schreiben an den Präsidenten der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt. In dem Brief macht der russische Arzt seinen deutschen Kollegen darauf aufmerksam, dass die russischen Ärzte dem Patienten Nawalny das Leben retteten.

Da die Experten aus Russland und ihre Kollegen aus Deutschland zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gekommen seien, sei es sinnvoll, eine gemeinsame Expertengruppe zu bilden, um der Krankheitsursache Nawalnys auf den Grund zu gehen. Sollte es sich tatsächlich um eine Vergiftung handeln, müsste in Russland eine Strafsache angestrengt werden.

Den Text des Briefes veröffentlichten mehrere russische Medien. Hier ist die deutsche Übersetzung im Wortlaut:

An den Präsidenten der Bundesärztekammer

Dr. Klaus Reinhardt.

Sehr geehrter Dr. Reinhardt,

wir als Ärzte waren über die Krankheit von Alexei Nawalny erschüttert. Wenn ein junger Mann plötzlich das Bewusstsein verliert und in ein Koma unklarer Genese fällt, ist das sehr tragisch.

Klinisch gesehen sind solche Fälle nicht nur tragisch, sondern auch sehr schwer zu diagnostizieren und zu behandeln. Und diese Komplexität schafft Raum für verschiedene Vorschläge und verschiedene Versionen der Geschehnisse: professioneller Natur oder fernab von Professionalität.

Von dem Moment an, als Herr Nawalny ins Notfallkrankenhaus von Omsk eingeliefert wurde, haben die Ärzte alles Notwendige getan, um den Zustand des Patienten zu stabilisieren. Sie haben ihm das Leben gerettet. Rehablitationsärzte und andere Spezialisten aus den führenden medizinischen Einrichtungen des Landes wurden zur Konsultation eingeladen. Auf Wunsch der Angehörigen wurde deutschen Medizinern der Zugang zu dem Patienten und sein anschließender Transport nach Deutschland ermöglicht.

Als Ergebnis der Untersuchung und Behandlung in Omsk und Berlin kamen die Ärzte zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen über die Ursachen der Erkrankung von Alexei Nawalny. Die medizinische Fachwelt bezweifelt die Schlussfolgerung der Forscher des Bundeswehr-Militärlabors über das Vorhandensein von Giftstoffen bei Nawalny.

Ärzte müssen sich aus der Politik heraushalten, und wenn komplizierte klinische Fälle auftreten, müssen wir diese komplexen Fragen untereinander in der medizinischen Gemeinschaft angehen. Unsere Entscheidungen müssen ausgewogen sein und dürfen nicht ohne Beweise von Politikern verwendet werden. Wenn sich Ärzte nicht einig sind, ist es in unserem Beruf üblich, ein ärztliches Beratungsgremium einzuberufen.

Aus diesem Grund möchten wir die Einrichtung einer gemeinsamen Kommission aus Vertretern der Nationalen Ärztekammer Russlands und der Deutschen Ärztekammer vorschlagen, möglicherweise unter Beteiligung von Spezialisten für Vergiftungen aus anderen Ländern, um eine Konsultation und eine unparteiische endgültige Entscheidung darüber zu treffen, ob Alexej Nwalny vergiftet wurde oder nicht.

Wir sind alle an der Wahrheit interessiert. Und wenn wir davon überzeugt sind, dass Alexei Nawalny tatsächlich vergiftet wurde und sein schwerer Zustand nicht auf andere Gründe zurückzuführen ist, werden wir fordern, dass in Russland ein Strafverfahren eingeleitet wird und dass die entschiedensten Maßnahmen ergriffen werden.

Unsere Kollegen im Notfallkrankenhaus Omsk waren seit der Evakuierung bereit, das gesamte Material für die gemeinsame Forschung zur Verfügung zu stellen.

Wir hoffen auf Verständnis und eine positive Lösung des Problems.

L. Roschal

Roschal, Jahrgang 1933, ist preisgekrönter und international anerkannter russischer Kinderarzt und Experte der Weltgesundheitsorganisation, Gründer und langjähriger Vorsitzender des Internationalen Komitees für Kinderhilfe bei Katastrophen und Kriegen sowie Mitglied der Menschenrechtskommission, die Präsident Putin berät. Auf Bitten der Geiselnehmer war er Vermittler bei der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater 2002 und bei der Geiselnahme von Beslan 2004. Mit seinem Einsatz bewirkte er die Befreiung mehrerer Kinder aus der Geiselhaft. 

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Nawalnys Ehefrau Julia kommentierte den Brief auf ihrem Instagram-Account. Sie zeigte sich überzeugt, dass ihr Mann mit organischen Phosphorverbindungen vergiftet wurde, und warf den russischen Ärzten in Omsk die Vertuschung dessen vor. Roschal griff sie persönlich an. Ihr Mann benötige keine Hilfe von einem Kinderarzt und sei nicht dessen "Eigentum". Roschal wolle Nawalny nicht helfen, sondern "an Informationen kommen und sich anbiedern":

Sie haben und werden nichts mit seiner Behandlung zu tun haben. Außerdem geben mir all Ihre öffentlichen Aktivitäten in den letzten Jahren nicht den geringsten Anlass, Ihnen zu vertrauen und Sie zu respektieren. Sie agieren nicht als Arzt, sondern als Stimme des Staates. (...) Laden Sie keine Sünde auf Ihre Seele, besonders nicht in einem so respektablen Alter.

Roschal nannte den Kommentar "inkorrekt", zeigte jedoch Verständnis für den Zustand von Julia Nawalny.

Ihr Brief entspricht nicht dem, worüber ich geschrieben habe. Jeder versteht Ihren Zustand. Ich wünsche Alexei Anatoljewitsch Genesung, und passen Sie auf sich auf", twitterte der Arzt. 

Inzwischen liegt die Antwort der Bundesärztekammer (BAK) auf den Vorschlag ihrer russischen Kollegen vor. Eine neue Untersuchung Nawalnys sei nach deutscher Gesetzgebung nur mit Einverständnis der Angehörigen möglich, teilte ein Sprecher der Kammer auf Anfrage der russischen Nachrichtenagentur TASS mit.

Die Bundesärztekammer ist sehr besorgt über den Gesundheitszustand von Alexei Nawalny und unterstützt die Forderung der deutschen Regierung an die russische Regierung, die Umstände, die zu dieser lebensbedrohlichen Krankheit geführt haben, aufzuklären", stellte BAK-Sprecher fest.

Es gebe keine Zweifel an der "Qualität der medizinischen Untersuchung" des Patienten, die von deutschen Ärzten durchgeführt wird, fügte er hinzu. Die Bundesärztekammer könne sich nicht an der Untersuchung selbst beteiligen, dies sei sei Sache der staatlichen Behörden, betonte die Organisation.

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