Jetzt wird fusioniert – wenn auch erst nur Bauteile und nicht Atomkerne: In riesigen Hallen nordöstlich von Aix-en-Provence in Südfrankreich warten gewaltige Magnetspulen, Vakuum-Behälter und glänzende Großbauteile aus Metall auf ihre Montage. Zusammengebaut sollen sie den Experimentalreaktor ITER für die Kernfusion ergeben. Das ist ein Mammut-Projekt, das hoffentlich in fernerer Zukunft – wenn es denn gelingt ganz nach Bedarf steuerbar – klimafreundlich so viel oder wenig Energie nutzbar machen soll, wie in Unmengen und explosionsartig bisher nur in Wasserstoffbomben freigesetzt werden kann.
Der Beginn der Montage des Reaktors sei ein historischer Moment, sagte ITER-Chef Bernard Bigot am Dienstag anlässlich einer Zeremonie für den neuen Bauabschnitt. Der härteste Teil der Arbeit liege nun aber noch vor dem Team. Der Aufbau sei wie ein riesiges 3D-Puzzle, das unter Beachtung des Zeitplans zusammengesetzt werden müsse, so Bigot.
Die Corona-Pandemie hatte die Tätigkeiten auf der Großbaustelle bei Cadarache, rund 60 Kilometer nordöstlich der französischen Hafenmetropole Marseille, zuletzt verlangsamt. Ganz unterbrochen waren sie jedoch nicht. An dem Projekt sind 30 Länder beteiligt, unter anderen neben Ländern der Europäischen Union auch die USA, Russland, China, Indien, Japan und Südkorea. Die Kosten werden auf mehr als 20 Milliarden Euro geschätzt, begonnen wurde der Bau 2010. Aufgrund eines Vorschlages des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow wurde 1985 bei Gesprächen mit den Präsidenten Frankreichs und der USA, François Mitterrand und Ronald Reagan, die Zusammenarbeit bei der Kernfusions-Forschung und der gemeinsame Bau eines Reaktors beschlossen.
Während der Pandemie sei es nicht einfach gewesen, die Herstellung und die Lieferung von Bauteilen aus den Ländern sicherzustellen, so der ITER-Chef bei der Feier, zu der Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron geladen hatte. Was am Ende aus diesen entstehen soll nennt Bigot einen "Stern auf der Erde".
Der Reaktor ITER soll Energie aus der Verschmelzung von Wasserstoff-Atomen erzeugen – und damit die Funktionsweise der Sonne imitieren. Dazu wird ein Wasserstoffplasma auf 150 Millionen Grad Celsius erhitzt. Das entstehende heiße Plasma muss von extremen Magnetfeldern berührungsfrei in der Brennkammer eingeschlossen werden.
"Tokamak" – Wer hat's erfunden?
Die ersten Ideen für das Tokamak-Prinzip wurden bereits 1949 in der UdSSR vom sowjetischen Physiker Oleg Alexandrowitsch Lawrentjew entwickelt und 1952 von Andrei Sacharow und Igor Tamm am Kurtschatow-Institut in Moskau weitergetrieben. So fanden ab den 1950er Jahren erste Experimente statt, die zum sowjetischen T3 von 1962 führten. Die ersten funktionsfähigen Tokamak als ringförmige Fusionsreaktoren in kleinem Maßstab wurden Ende der 1960er Jahre von einem Team unter der Leitung von Lew Andrejewitsch Arzimowitsch entworfen.
In der Anlage ITER soll 2025 das erste Plasma gezündet werden, damit die Physiker dort mit weiteren Experimenten beginnen können, erklärte Bigot. Für 2035 ist dann die Beladung des Reaktors mit Deuterium-Tritium und der Beginn von Versuchen geplant, Energie mit einem positiven Nettoertrag aus der Kernfusion zu gewinnen. Dass der Reaktor die nutzbar gemachte Energie dann gegebenenfalls als Elektrizität abgibt, ist aber auch dann nach ITER-Angaben noch nicht vorgesehen. Die Experimentalanlage soll dennoch aber geeignete Wege für spätere Fusionskraftwerke zur Stromerzeugung eröffnen.
Russland plant unterdessen, seine Tokamak-Forschungen in Gestalt des T-15MD Ende 2020 auf den Markt zu bringen. Diese Anlage soll auch für die ITER-Forschung eingesetzt werden. Er wurde vom Kurtschatow-Institut in Moskau entworfen und basiert auf früheren Experimentalanlagen.
Befürworter der Technologie erhoffen sich von der Kernfusion eine nahezu unendlich verfügbare Energiequelle ohne klimaschädliche Emissionen oder das Risiko einer Kernschmelze wie in Atomkraftwerken. Kritiker sehen auch ITER dagegen als viel zu teuer an. Die Bundestagsabgeordnete von Bündnis90/Die Grünen, Sylvia Kotting-Uhl (Dramaturgin und Psychologin), spricht als Atomenergie-Expertin der Grünen im Bundestag von einem "Milliardengrab ohne Happy End". Die kommerzielle Anwendbarkeit der Technologie stehe in den Sternen und werde im besten Fall gegen Ende dieses Jahrhunderts möglich sein, kritisiert die Grünen-Politikerin. "Deutschland und die EU steuern mit Vollgas in die Sackgasse, anders kann man diesen Wahnsinn nicht bezeichnen."
Und andere Kritiker unken zudem, dass die Fusionsenergie ohnehin schlicht zu spät komme. Die Treibhausgasemissionen müssten im Kampf gegen den Klimawandel schon vorher deutlich sinken und die erneuerbaren Energien hätten sich bis dahin längst durchgesetzt, so ihr Tenor. Heinz Smital, Sprecher von Greenpeace Deutschland für Atomkraft und 2011 Gast bei einer öffentlichen Tagung der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung der Bundesregierung, nennt den ITER-Reaktor ein "teures Spielzeug".
"Anlagen zur Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien sind heute schon viel leistungsfähiger und preiswerter und werden sich in den nächsten 50 Jahren auch noch weiter verbessern", so Smital. Selbst wenn diese ITER-Anlage fertig gebaut sei und funktionieren sollte, werde sie immer noch keinen Strom erzeugen, kritisiert Smital.
Ein weiteres Problem des Forschungsprojektes sei die komplizierte Organisation infolge von mehr als 30 Ländern, die daran beteiligt sind und alle möglichst gleichmäßig von dem Mammutvorhaben profitieren wollen und sollen.
(rt/dpa)