Dr. Anders Tegnell ist seit 2013 Staatsepidemiologe der schwedischen Gesundheitsbehörde. Die Regierung in Stockholm richtete sich unter anderem nach seinen Empfehlungen, wie sie mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie umgehen soll und welche Maßnahmen ergriffen werden sollen, um die Auswirkungen auf Bevölkerung und Wirtschaft abzufedern.
Während die meisten Länder ihre Grenzen dicht machten, die Wirtschaft herunterfuhren und die Bevölkerung wochenlang in die eigenen vier Wände verbannte, ging Schweden einen ganz anderen Weg. Statt sozialer Isolierung gab es Abstandsregelungen, Restaurants, Bars und Läden blieben die ganze Zeit über geöffnet, kleinere Kinder konnten zur Schule gehen. Lediglich weiterführende Schulen und Universitäten wurden geschlossen und Versammlungen ab 50 Personen verboten.
Mit Erstaunen blickten die restlichen Länder auf diese im Vergleich gemäßigten Maßnahmen der Regierung. Die Kritik aus dem Ausland wuchs im Gleichschritt mit den steigenden Todeszahlen; schnell wurde der Vorwurf laut, dass der "Sonderweg" unverantwortlich sei.
Obwohl die Mehrheit der Menschen hinter ihrer Regierung stand, nahm der Druck aus dem Ausland auf Stockholm zu. Das führte schließlich dazu, dass sich Außenministerin Ann Linde Ende Mai verpflichtet fühlte, die Entscheidungen ihrer Regierung zu rechtfertigen.
Nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO nun Schweden zum Risikogebiet erklärt hat, kritisierte Anders Tegnell in einem Interview mit dem Fernsehsender SVT diesen Schritt scharf. "Das ist leider eine totale Fehldeutung der Daten", sagte er.
Die WHO-Einschätzung erfolgte aufgrund der gestiegenen Übertragungsrate der letzten zwei Wochen. Dabei sei in Schweden zusammen mit zehn weiteren Ländern der höchste Zuwachs an Neu-Infizierten zu verzeichnen gewesen, berichtet die WHO.
Mehr zum Thema - WHO schlägt Alarm wegen steigender Corona-Zahlen in Europa
Tegnell aber sagte, dass diese Zahlen nur wenig Aussagekraft besitzen, weil in Schweden einfach deutlich mehr getestet wurde. Personen, die vorher aufgrund ihrer fehlenden oder milden Symptomverläufe gar nicht erst registriert wurden und somit in keiner Corona-Statistik auftauchten, wurden nun eben aufgrund der Massentests statistisch erfasst. Aber das bedeute nicht, dass es deswegen tatsächlich mehr Corona-Fälle in Schweden gebe, beschwerte sich der Chefepidemiologe.
Wir sehen überhaupt keine Beweise, dass unsere Epidemie in Schweden schlimmer wird, ganz im Gegenteil.
Er verwies darauf, dass die Zahlen aus den Krankenhäusern und Intensivpflegeabteilungen fallen, ebenso wie die Todesfälle in seinem Land. Deshalb könne keine Rede davon sein, dass Schweden ein Corona-Risikogebiet sei.
Stattdessen holte er gegen andere Regierungen aus, die nach dem Virusausbruch in Panik geraten und "durchgedreht" seien. Der verhängte Lockdown werde weit schlimmere Folgen für die Menschen und Wirtschaft haben, als der vermeintliche Nutzen aufgrund dieser Maßnahmen.
Auf die Frage, weshalb die WHO die Daten falsch interpretiere, antwortete Tegnell, dass sich niemand von der Weltgesundheitsorganisation bei den schwedischen Behörden gemeldet habe, um über die Zahlen zu sprechen. So sei auch die Tatsache untergegangen, dass in Schweden einfach deutlich mehr getestet wurde, als es in den vergangenen Monaten der Fall war, erklärte er.
Diese WHO-Einstufung könnte nun zur Folge haben, dass es gerade in Hinblick auf die bevorstehenden Sommerferien zu Diskriminierungen kommen kann. Feriendestinationen könnten Menschen aus Schweden aufgrund der Kategorisierung als Risikogebiet als Urlauber nicht zulassen.
Für die schwedische Regierung könnte das zur Folge haben, dass ihre Zustimmungswerte weiter sinken, wenn die ansonsten Reisefreudigen Schweden zu ungebetenen Gästen würden. Die Zustimmungsrate sank von noch 50 Prozent im Mai um weitere 12 Prozent bis zu dieser Woche.
Mehr zum Thema - Dänemark: Urlaub in Ländern mit hoher Corona-Infektionsrate als potenzieller Kündigungsgrund