von Wladislaw Sankin
"Wir sind keine Auftragswissenschaftler", versichert der Vorredner Prof. Dr. Guido Hausmann von der Universität Regensburg zu Beginn der Konferenz mit Bezug auf einen durchaus denkbaren Lobbyismus-Vorwurf gegen ihn und seine Kollegen. Hausmann ist Mitglied der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission und sollte den Impulsvortrag bei dem Online-Gespräch "Deutschland und der Holodomor" des den Grünen nahestehenden Thinktanks "Zentrum Liberale Moderne" (LibMod) am 23. Juni halten.
Die bekannte grüne Polit-Rentnerin Marieluise Beck, der Osteuropasprecher und ihr Nachfolger im Deutschen Bundestag Manuel Sarrazin, der CDU-Abgeordnete Arnold Vaatz, zwei ukrainische Rada-Abgeordnete und ein weiterer Historiker nehmen daran teil. Mit der Diskussion wollen sie die Debatte um die Anerkennung der Hungersnot in der Ukrainischen SSR in den Jahren 1932/33 als Genozid an der ukrainischen Nation in Schwung bringen.
Eine entsprechende Petition wurde im Dezember 2018 beim Deutschen Bundestag eingereicht. Im Oktober 2019, nachdem die nötige Anzahl an Unterschriften von 50.000 erreicht wurde, fand dazu eine Anhörung im Bundestag statt. Die völkerrechtliche Beurteilung des "Holodomor" als Völkermord mache sich die Bundesregierung "nicht zu eigen", sagte Staatsminister Michael Roth (SPD). Obwohl es sich nach seinen Worten um eine "grauenvolle, schreckliche Hungerkatastrophe" handele, "die von Menschen zu verantworten ist und die zu Millionen von Hungertoten geführt hat". Doch Roths Absage ist ein bitteres Ergebnis für die deutschen "Ukraineversteher". Laut Beck besteht in Deutschland dringender Aufklärungsbedarf bei dem Thema.
Ukrainischer Weltkongress: Siegesfahne ist "totalitäres Symbol"
Heute ist unbestritten, dass die Hungersnot in weiten Gebieten der Sowjetunion – von Weißrussland bis Westsibirien – in der Tat Millionen Menschen auf dem Land das Leben kostete. Das Thema muss erforscht und es muss der Opfer gedacht werden. Die entscheidende Frage ist jedoch, in welcher Art und Weise das geschieht.
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, wer die Petition eingereicht hat. Online erhielt sie fast 57.000 und offline über 16.000 Unterschriften. Laut der ukrainischen Botschaft waren es im Mai 2019 sogar bereits mehr als 80.000 Unterschriften. Dies sei eine Privatinitiative der ukrainischen Diaspora, schreibt der Dachverband der ukrainischen Organisationen in Deutschland, der Bundestag gibt Natalija Reifenstein-Tkachuk als Petentin an. Ein weiteres deutsch-ukrainisches Portal namens Bavarian Herald gibt die kanadische NGO Ukrainischer Weltkongress (Ukrainian World Congress, UWC) als Triebkraft der aktuellen Aufklärungskampagne in Deutschland an. Diese soll "das Bewusstsein für den Holodomor bei deutschen Politikern, Wissenschaftlern und der Zivilgesellschaft stärken".
Ziel der Holodomor-Aufklärungskampagne ist es, dass der Deutsche Bundestag den Holodomor als einen Akt des Völkermords an der ukrainischen Bevölkerung anerkennt", so im Artikel weiter.
Der UWC, der sich anmaßt, die weltweit Millionen umfassende ukrainische Diaspora zu vertreten, wurde im Jahre 1967 in den USA gegründet und hieß damals "The World Congress of Free Ukrainians".
Die Organisation geht auf die Initiative des Anführers eines Zweiges der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) Andrei Melnyk zurück. Er wollte damit rivalisierende Zweige verschiedener Organisationen ukrainischer Nationalisten unter einem Dach vereinen.
In den 1930er- und 1940er-Jahren vertrat die OUN die faschistische Ideologie und kooperierte eng mit den Nazis. Melnyk selbst war Agent des deutschen Militärgeheimdienstes "Abwehr". Über Kanäle der Abwehr soll er laut dem US-Historiker John Armstrong folgende Mitteilung am 7. Juli 1941 an Adolf Hitler geschickt haben: "Wir möchten mit Ihnen am Kreuzzug gegen das bolschewistische Barbarentum teilnehmen. Wir bitten Sie, dass es uns erlaubt wird, Seite an Seite mit den Legionen Europas und unserem Befreier, der deutschen Wehrmacht, zusammenzugehen und eine ukrainische Militärformation zu schaffen." Später dienten seine Anhänger der örtlichen Polizei in der besetzten Ukraine und stellten sich in den Dienst der Waffen-SS-Grenadier-Division "Galizien".
Nach dem Krieg siedelten Zehntausende ehemalige Kämpfer der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), des bewaffneten Arms der OUN, sowie andere Nazikollaborateure in die USA und Kanada über. Bereits seit 1944 wurden westukrainische Nationalisten von den angloamerikanischen Geheimdiensten für Sabotage, Terrorismus und Propaganda gegen die Sowjetunion eingespannt – mit dem gleichen Köder wie zur Nazizeit: Nach dem Dritten Weltkrieg, der von den USA gewonnen würde, hofften sie, auf den Trümmern der UdSSR endlich ihren ukrainischen Staat gründen zu können.
In diesem Dunstkreis wurde in den 1950ern unter Mithilfe des US-Senats die Theorie des Genozids am ukrainischen Volk endgültig systematisiert und später, während der Präsidentschaft Ronald Reagans, weiterentwickelt.
Ähnliche Aktivitäten trieben die US-Organe mit den Angehörigen anderer Ethnien des Vielvölkerstaates Sowjetunion voran, um diese entlang der Republikgrenzen zu spalten. Antikommunistische und antirussische Ressentiments sowie die Vorstellung von der UdSSR als "Völkergefängnis" waren deren ideologische Grundlage.
Der Ukrainische Weltkongress wird bis heute von ultranationalistischen Kräften dominiert und bedient sich der unversöhnlichen Kalter-Kriegs-Rhetorik. Im letzten Jahr setzte die russische Staatsduma die NGO auf die Liste der "unerwünschten Organisationen", was zornige Reaktionen aus Kiew nach sich zog.
Der UWC versucht, nationalistische und chauvinistische Stimmungen bei den Ukrainern in aller Welt hervorzurufen, auch bei den in Russland lebenden. Damit begründete der erste stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für GUS-Angelegenheiten der Staatsduma Wiktor Wodolazki die Entscheidung. Die Organisation versprühe Hass und Groll, ihre Haltung zu Russland und der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges sei grundsätzlich negativ und verzerrend.
In der Tat, der UWC veröffentlicht auf seiner Webseite täglich agitatorisch verfasste Texte und rühmt sich regelmäßig, mit seinen antirussischen Initiativen "Druck auf die Regierungen der Welt" auszuüben. Im letzten Online-Flugblatt wurde die Siegesparade am 24. Juni verurteilt: Diese sei ein "weiterer manipulativer Versuch der russischen Propaganda, der Welt die Geschichtsschreibung und den Stalinkult des Kreml aufzuzwingen, der die sowjetischen Unterdrücker gefangener Nationen als 'Befreier' darstellt". Dies zeige inmitten der COVID-19-Pandemie "Russlands eklatante Missachtung menschlichen Lebens, die typisch für alle totalitären Regime ist".
Wir rufen dazu auf, die Propagandakampagnen des Kreml zu boykottieren und die öffentliche Zurschaustellung totalitärer Symbole zu verbieten", so der UWC weiter.
Die ablehnende Haltung des Ukrainischen Weltkongresses zur Würdigung des Sieges über den Nazismus macht dessen profaschistische Wurzeln deutlich. Der Totalitarismus-Vorwurf gegen Russland und die Sowjetunion dient oft nur als Vorwand. Die Rehabilitierung und Würdigung von Nazikollaborateuren blüht vor allem in jenen Staaten, in denen die Sieger den Besiegten gleichgestellt und die Symbole des Sieges verboten sind. Nun machen diese Menschen Druck auf den Deutschen Bundestag.
Doch was gilt in der Vorstellung des UWC und der im Bundestag eingereichten Petition als "Holodomor"?
Die Tragödie sei ein Genozid durch Hunger, der in den Jahren 1932/33 in den östlichen Gebieten der Ukraine und der angrenzenden Region Kuban, im Nordkaukasus und im Wolgagebiet ereignete, wo überwiegend ethnische Ukrainer gelebt hatten. "Holodomor – dieses Wort setzt sich zusammen aus den ukrainischen Wörtern Holod für Hunger und Moryty, was für Tötung/Vernichtung steht (…)."
Angeordnet wurde diese unmenschliche und ungeheuerliche Tat von Josef Stalin, der damit den Widerstand der ländlichen ukrainischen Bevölkerung gegen die Zwangskollektivierung brechen wollte und die Zerstörung des kulturellen und religiösen ukrainischen Lebens zum Ziel hatte.
"Nach unabhängigen Rechnungen" werde die Zahl der Opfer des "Holodomor" auf circa sieben bis zehn Millionen Ukrainer geschätzt, schließt die Petition.
Wjatrowitsch: Würdigung der Nazi-Helfer
Der Terminus "Holodomor" existiert erst seit den 1980er-Jahren. Seit dem Jahr 2006 ist der "Holodomor" per Rada-Beschluss ukrainische Staatsdoktrin und Bestandteil öffentlichen Rechts, er darf per Gesetz nicht gelegnet werden. Zwischen "Holodomor" und "Holocaust" gibt es keinen linguistischen Zusammenhang, jedoch ist der dem Zufall geschuldete Gleichklang auffallend. Seit Jahren wird der "Holodomor" als "ukrainischer Holocaust" bezeichnet. Daran knüpft auch die "Aufklärungskampagne" an. Da Deutschland die "Verbrechen der totalitären Regime" hart verurteilt und den Holocaust anerkannt habe, sei auch die Anerkennung des Holodomor in Deutschland wichtig, so der Rada-Abgeordnete der Poroschenko-Partei "Europäische Solidarität" Wladimir Wjatrowitsch im Online-Gespräch von LibMod.
Das Nazi-Regime wurde im Nürnberger Prozess verurteilt, doch es gab kein Tribunal, das den Holodomor verurteilt hätte", bedauert Wjatrowitsch.
Wjatrowitsch ist kein Unbekannter. Im Gegenteil, als Direktor des Instituts für Nationales Gedenken war er die gesamte Präsidentschaft Poroschenkos über berühmt-berüchtigt. Er begründete etwa die beispiellose sogenannte Dekommunisierungkampagne, in deren Folge Tausende Denkmäler im ganzen Land abgerissen, Hunderte Orte und Tausende Straßen umbenannt und strenge Ukrainisierungsgesetze verabschiedet wurden, und trieb diese voran. Kritiker werfen Wjatrowitsch auch eine "Derussifizierung" und die "Säuberung" der Ukraine von der eigenen Geschichte und Kultur vor. Denn da das Institut keine wissenschaftliche Einrichtung ist, sondern ein Regierungsorgan, war Wjatrowitsch so etwas wie der Chefideologe des Landes, all seine Beschlüsse und Empfehlungen wurden umgesetzt.
Zu seinem Erbe zählt auch das Weißwaschen und die staatliche Würdigung nicht nur der "Helden" unter den nazistischen Kollaborateuren der UPA-Verbände, sondern auch der ukrainischen Freiwilligen der SS-Grenadier-Division Galizien. Um die Beschlüsse des Nürnbergers Tribunals zu umgehen, das alle SS-Einheiten, auch die der Waffen-SS, als verbrecherisch eingestuft hatte, verschleierte sein Institut die Zugehörigkeit der Division zur SS einfach durch die Streichung der anrüchigen Abkürzung. Somit mutet sein Verweis auf "Nürnberg" im Gespräch mit den deutschen Beratern mehr als merkwürdig an.
Beim Werben um die Anerkennung des "Holodomor" setzen er und seine Rada-Kollegin nicht nur auf das deutsche "Vorzeige-Gewissen", sondern auch auf Mitleid und Übertreibung bei den Opferzahlen – der Holodomor sei "die Ausmerzung des Lebens an sich" gewesen und könne sogar über zehn Millionen Opfer gefordert haben.
Die deutschen Berater aus Politik und Wissenschaft wissen jedoch, dass nicht nur die Person Wjatrowitsch etwas "kontrovers" (Beck), sondern dass auch die Angelegenheit mit der Anerkennung als Völkermord an Ukrainer an sich "heikel" (Vaatz) ist. Hausmann nennt eine realistischere Zahl von etwa 3,5 bis vier Millionen Toten in der Ukraine. Staatlich verordnete Geschichtspolitik sei "problematisch", merken Beck und Sarrazin im Hinblick auf die heutige Ukraine an und schlagen mehr Engagement der "Zivilgesellschaft" vor.
"Es gibt Fakten, die mich dazu bringen, dies nicht als Genozid zu bezeichnen", sagte Sarrazin. "Es gab keine Absicht, Ukrainer zu vernichten", zweifelte auch der DGAP-Experte Wilfried Jilge und wies auf Wichtigkeit der Belege einer Vernichtungsintention in der deutschen Rechtskultur hin. "Die Gleichsetzung des Holodomor mit Holocaust ist keine Option" sagte CDU-Politiker Vaatz.
"Roter Hunger": Wenn Geschichte zu Propaganda wird
Doch trotz der Skepsis bezüglich der Aussichten der Anerkennungs-Kampagne hoffen die deutschen Konferenzteilnehmer, dass der "Holodomor" immer mehr ins Zentrum der deutschen Debatte rückt und irgendwann zur herrschenden Sichtweise wird. Dafür bleiben die Ex-Politikerin Beck und der Historiker Hausmann in ihrer Wortwahl ausdrücklich bei dem Terminus "Holodomor". Hausmann verspricht für den Herbst eine Fachkonferenz zu diesem Thema. Beck bewirbt als Moderatorin der Web-Konferenz die Lektüre der Bücher "Roter Hunger" von Anne Applebaum und "Bloodlands" von Timothy Snyder. Beide Autoren sind in zahlreiche transatlantische Thinktanks eingebunden und werben unermüdlich für einen harten antirussischen Kurs.
Am Propaganda-Charakter ihres Buches ließ Applebaum selbst kaum Zweifel, als sie in einem Facebook-Post über ihre Intention schrieb. "Mein Argument ist, dass der Hunger sich perfekt in die ursprüngliche Definition des Genozids einfügt, wie sie vom Rechtsforscher Raphael Lemkin konzipiert wurde. Tatsächlich ist das zentrale Argument meines Buches (…), dass Stalin den Hunger absichtlich nutzte, und zwar nicht nur, um die Ukrainer zu töten, sondern auch, um die ukrainische nationale Bewegung zu zerstören, die er als Bedrohung für die Sowjetmacht auffasste, und um die Idee einer unabhängigen Ukraine für immer zu vernichten", schrieb sie auf Facebook. Damit wiederholt sie wortwörtlich die nationalistische Lesart und missachtet Gegenbeweise. Trotz manchen Jubels in der Presse (Die Welt: "Hunger war Stalins Mordwaffe gegen die Ukraine")blieb der einseitige und politisch tendenziöse Charakter des Buches deutschen Fachhistorikern nicht verborgen.
Applebaum erweist denjenigen Ukrainern einen Bärendienst, die sich gegen die Politisierung von Geschichte sowie die Heroisierung ukrainischer Faschisten wehren, für eine demokratische und inklusive Ukraine kämpfen und dabei zugleich den Millionen ukrainischen Opfern der Hungersnot von 1932 bis 33 angemessen gedenken möchten", schrieb die Historikerin Franziska Davies in der Süddeutschen Zeitung.
Es ist nicht das erste Mal, dass die ukrainische Diaspora in Deutschland eine Anerkennungs-Debatte anstoßen will. "Bereits 2007 wurde eine ähnliche Initiative, allerdings auf Organisationsebene, von vielen deutsch-ukrainischen Organisationen ins Leben gerufen. Es folgten weitere, die letzte wurde im September 2017 vom Bundestag abschließend beraten und abgelehnt", schreibt der Dachverband der ukrainischen Organisationen in Deutschland e.V.
Der erste Vorstoß geht auf eine massive weltweite Kampagne des damaligen Präsidenten Wiktor Juschtschenko in den Jahren 2005 bis 2009 zurück. Er setzte den "Holodomor" auf die Agenda von UNO, UNESCO und OSZE. Seine Diplomatie erwirkte die Anerkennung der Hungersnot als Völkermord an den Ukrainern durch mehrere lateinamerikanische Parlamente sowie Lettland, Litauen, Georgien und Polen. Derzeit sind es mit den USA, deren Kongress eine entsprechende Resolution im November 2018 verabschiedete, 23 Länder.
Russischer Historiker: Tanz auf Gräbern
In Reaktion auf diese Kampagne gab Russland viele Geheimakte in den Archiven frei und intensivierte die eigene Forschungsarbeit über den Hunger in der Sowjetunion. "Dank unserer Bemühungen hat es dann trotz des massiven politisch motivierten Drucks keine juristische Einstufung der Hungerkrise als Genozid auf der Ebene der internationalen Organisationen gegeben", sagt der russische Historiker Wiktor Kondraschin. Eine solche Einstufung wäre sehr schade, denn die ethnisch-national motivierte Genozid-Theorie sei schlicht unwahr und amoralisch.
Kondraschin ist der führende russische Spezialist für die russische und sowjetische Agrargeschichte des 20. Jahrhunderts. Er ist Autor Hunderter Publikationen und Herausgeber der von 2011 bis 2013 erschienen mehrbändigen Quellensammlung zur Hungersnot in der Sowjetunion. Besonders wertvoll ist die geheime Behördenkommunikation, vor allem die Beschreibungen der Lage durch den Inlandsgeheimdienst und die Verordnungen aus Moskau. Es gibt keinen einzigen Beweis für eine von Kreml absichtlich erwirkte Hungersnot, so der Historiker in vielen seiner Interviews. Die Zahl der Toten in der Ukraine und in der restlichen Sowjetunion sei ungefähr gleich: Derzeit gehe man von insgesamt etwa fünf bis sechs Millionen Opfer aus. Die Ursache für die Krise sei sehr komplex und auf mehrere politische Faktoren und verhängnisvolle Fehlentscheidungen zurückzuführen – auch wenn die Staatsmacht bei der Kollektivierung und der Eintreibung der Ernteabgaben äußerst gewaltsame und zynische Methoden gegen die Bauernschaft angewandt habe.
Die Geschichte kennt keine schmerzlosen Fälle des Zerfalls der Bauernzivilisation unter dem Druck der industriellen. Aber in der UdSSR war dieser Prozess besonders dramatisch und mit harten Folgen für das Schicksal von Millionen von sowjetischen Bauern in allen Ecken des Landes", sagte Kondraschin in einem Sputnik-Interview.
Auch auf der Ebene der Logik sei die Genozid-Theorie falsch: Für die Industrialisierung brauchte die Sowjetunion Millionen arbeitender Hände sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, auch um die rasch wachsende Arbeiterschaft zu ernähren. Außerdem war der Getreideexport mit Ausnahme der Hungerjahre die wichtigste Devisenquelle für den Einkauf von Maschinen. Die agrarisch geprägte Ukraine baute Stalin zu einer stark industrialisierten Vorzeigeregion auf. In diesem Kontext wird oft die Verfügung Stalins zitiert, die er mitten in der Krise erließ.
(Es ist nötig), sich das Ziel zu setzen, die Ukraine in kürzester Zeit in eine echte Festung der UdSSR, in eine wahre Vorbild-Republik zu verwandeln. Kein Geld darf dafür gescheut werden.
Kondraschin ist weltweit angesehen, seine Arbeiten erscheinen in vielen Sprachen. Seine ukrainischen und ausländischen Opponenten kennt er persönlich. "Sie sind keine schlechten Menschen, oft sind sie nur schlecht informiert", sagt er in einer Vorlesung. Auch einer der US-Väter der "ukrainischen" Genozid-Theorie James Mace habe ihm nach der Lektüre eines seiner Bücher geschrieben, dass er nicht gewusst habe, dass der Hunger auch auf dem Territorium der Russischen SFSR wütete. Kondraschin lässt in seinen Artikelsammlungen auch ukrainische Autoren zu Wort kommen, Angst vor ihrer Argumentation hat er nicht. "Der Großteil der seriösen Forscher unterstützt sie nicht", sagt er.
"Russische Wissenschaftler beweisen mit ihrer Offenheit für Debatten hohe wissenschaftliche Standards", schreibt der schwedische Historiker Lennart Samuelson in einem Artikel. Darin fasst er seine Eindrücke von einem internationalen runden Tisch der Russischen Akademie der Wissenschaften zum Thema Hungersnot zusammen. Samuelson scheint zu Kondraschins Thesen zu tendieren, wenn er auf die Monografie der australischen Agrarhistoriker RobertDavies und Stephen Wheatcroft "Die Jahre des Hungers" (2004) hinweist. Deren Schlussfolgerung ist, dass "die sowjetische Führung mit einer Hungerkrise zu kämpfen hatte, die durch ihre verfehlte Politik verursacht worden war, aber unerwartet und unerwünscht war".
Kondraschin betont, dass die Hungersnot eine große gemeinsame Tragödie aller Einwohner der Sowjetunion war. Das Gedenken an die Verstorbenen soll einen und nicht spalten und aufhetzen, ein "Tanz auf Gräbern" sei inakzeptabel. Die Teilnehmer der Online-Konferenz "Deutschland und der Holodomor" kennen Kondraschin und seine Thesen. Die Frage ist allerdings, ob sie ihn und seine russischen Kollegen zu den von ihnen angekündigten Diskussionen zu diesem Thema nach Deutschland einladen.
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