"Heute haben wir Point of no return überschritten", sagte der wichtigste ukrainische kritische Meinungsmacher im Internet Anatolij Scharij in einer seiner zahlreichen Liveschaltungen an diesem Tag. Er betreibt seit mehreren Jahren einen Youtube-Kanal mit inzwischen 2,36 Millionen Abonnenten, hat eine eigene Nachrichten-Webseite und ist auch sonst in den sozialen Medien sehr aktiv. Neben investigativem Journalismus und kritischer Medienanalyse mischt Scharij spätestens seit den Präsidentenwahlen 2019 aktiv in der Politik mit. Er profilierte sich als scharfer Kritiker des nationalistischen Ex-Präsidenten Petro Poroschenko und sympathisierte mit dessen Rivalen, dem Comedy-Schauspieler Wladimir Selenskij. Dann gründete er die Partei "Partija Scharija" und erhielt bei den Parlamentswahlen im letzten Sommer 2,1 Prozent der Stimmen.
Am Mittwoch gelang es dem Blogger, etwa 1.000 Menschen zu einer Demonstration und Kundgebung im Kiewer Regierungsviertel zu mobilisieren. Nur zwei Tage war der Aufruf im Netz. Letztlich war es das Vertreiben seiner Journalisten vom Gerichtsgelände bei ihrer Berichterstattung über den Prozess gegen den mutmaßlichen rechtsradikalen Mörder Sergei Sternenko (RT berichtete) durch die Polizei, das das Fass zum Überlaufen brachte.
Ob die gelungene Protestaktion jedoch tatsächlich den Anfang eines politischen Tauwetters bedeutet, wird sich zeigen. Scharij verfügt über keine Kontakte zu den versteckten Kanälen der ukrainischen Politik und Bürokratie oder zu den Oligarchen, denen auch die größten ukrainischen Medien gehören – seit 2012 lebt er im politischen Asyl in einem von ihm nicht näher genannten EU-Land. Er positioniert sich auch gegen das einflussreiche westliche NGO-Netz in der Ukraine. Dennoch, es scheint an diesem Tag, dass Scharij und seine Sympathisanten der ukrainischen Politik neues Leben einhauchen können.
"Wir beherrschen nun die Straße", lobte der Journalist die Versammelten vom Bildschirm aus. Zu Gegenprotesten der Nationalisten erschienen viel weniger Leute, zumal es der Polizei gelang, die beiden Gruppen voneinander zu trennen. Später kam es zu einem abgewehrten Angriff der Nationalisten auf die Scharij-Anhänger, wobei die "Nazis" bei der anschließenden Schlägerei endlich "das, was ihnen zusteht" bekamen.
Wir verfügen über sportliche Menschen in unseren Reihen", so Sharij in seinem Kommentar für einem Fernsehsender.
In der Tat waren es überraschende Bilder aus Kiew. Die Redner und die Menschen – hauptsächlich urbane Mittdreißiger – riefen ihre Parolen nur auf Russisch, auch die Plakate waren in der Sprache verfasst, die es seit Inkrafttreten des Bildungsgesetzes im September 2019 offiziell kaum noch gibt. In der Hoffnung, dieser sei eine Art Anti-Poroschenko, erhielt Selenskij die meisten seiner Stimmen in den russischsprachigen Regionen der Ukraine.
"Nemoj President – ne moj President" – im Deutschen bedeutet das Wortspiel im Hauptslogan der Demonstranten in etwa "Ein stummer Präsident ist nicht mein Präsident". Gemeint war Selenskijs Schweigen zur Straßengewalt der Nationalisten und das Einknicken der Polizei vor rechten "Aktivisten". "Selenskij ist Poroschenkos Weg gegangen", sagt Scharij. Die Demonstranten forderten vor seinem Büro, dass der Präsident zu ihnen kommt. Da Selenskij die nationalistische Politik seines Vorgängers fortsetze, sei sein Ansehen bei den Wählern schon ruiniert. Der Präsident kam nicht, dabei standen dort keine Scharij-Wähler, sondern Menschen, die für Selenskij gestimmt hatten, sagte der Blogger in seinem Videobericht.
Nun wollen sie nichts von ihm hören.
Scharij kritisiert in seinen Blogs die "Propaganda des Hasses" ukrainischer Medien gegen Russland und die nicht anerkannten Volksrepubliken, obwohl er deren Gründung nicht unterstützt. Offiziell ging es bei der Kundgebung nur um die Eindämmung rechter Gewalt und den Schutz der Journalisten, doch gemeint war viel mehr. Einer der Versammelten trug das Porträt des auf offener Straße erschossenen Schriftstellers und Journalisten Oles Busina mit sich. Busina kritisierte den Maidan-Umsturz sowie den Krieg in der Ostukraine und trat für Frieden zwischen der Ukraine und Russland ein.
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Der Ex-Premier der Janukowitsch-Regierung Nikolai Asarow, der im Januar 2014 auf Drängen der Maidan-Demonstranten zurückgetreten war und jetzt im russischen Exil lebt, unterstützte die Proteste bereits.
"Es ist notwendig, der Regierung, die auf einer Welle der Versprechungen an die Macht kam, zu zeigen, dass es unmöglich ist, den gleichen Kurs zu verfolgen, den die Junta nach dem Staatsstreich eingeschlagen hat und der zum Zusammenbruch des Landes, zu Gesetzlosigkeit, zur Tatsache, dass sich alle ungeschützt fühlen, zur Tatsache, dass in der Ukraine Banditen herrschen, führte. Kommt und protestiert!", schrieb Asarow auf seinem Facebook-Account.
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