Allmacht der "Aktivisten" in der Ukraine: Umkämpfte Prozesse gegen rechtsradikale Mordverdächtige

Er stach einen Mann nieder und verletzte einen anderen – angeblich aus Notwehr. Ermittlungsergebnisse und seine ersten Angaben widersprechen dieser Version. Doch seit zwei Jahren inszeniert sich der 25-jährige Ultra-Nationalist Sergei Sternenko als Opfer einer Verfolgung.

Zum Zeitpunkt der Tat im Mai 2018 war Sergei Sternenko gerade 23 Jahre alt. Doch schon damals konnte er auf ein langjähriges Aktivisten-Dasein zurückblicken. Anfang 2014 reiste Sternenko zu den Kämpfen auf den Kiewer Maidan. Dann leitete er die Niederlassung der rechtsradikalen Organisation Rechter Sektor im südukrainischen Odessa und beteiligte sich an vielen nationalistischen Straßenaktionen, darunter an den tödlichen Ausschreitungen am 2. Mai. Zuvor fiel er wegen kleinerer Kriminaldelikte wie Drogenverkauf und Erpressung auf.

Am späten Abend des 24. Mai wurde Sternenko in der Nähe seines Hauses von zwei Personen angegriffen – zunächst verbal, dann körperlich. Er schnappte sich ein Messer und verletzte einen der Angreifer. Die beiden ergriffen die Flucht. Er holte einen von ihnen ein und stach auf diesen in der Herz- und Bauchgegend mehrmals ein. Was danach passierte, hat die Freundin von Sternenko gefilmt und bei Facebook live übertragen. Im kurz darauf entfernten Video (auf Youtube noch zugänglich) ist zu sehen, wie im Dunkeln ein Mann schwer röchelnd mit herausgefallenen Eingeweiden liegt. Sternenko zeigte seine eigenen Messerverletzungen in die Kamera und sprach von Notwehr. Die beiden erklärten, warum sie dem Schwerverletzten keine Nothilfe leisteten. Bald darauf starb Iwan Kuznezow, ein Marine-Soldat, an seinen Verletzungen.

Dieser Tathergang ergibt sich aus der polizeilichen Expertise und den ersten Angaben von Sternenko, als er im Video sagte, dass das Messer ihm gehöre. Laut Polizei hat er sich die Verletzungen selbst zugefügt, um die Geschichte von der Notwehr glaubhafter zu machen. Später korrigierte Sternenko seine Aussagen und erzählte, dass er das Messer den Angreifern entrissen habe. Sergei Sternenko betonte, dass er schon zuvor zweimal angegriffen wurde und inszenierte sich als Zielscheibe für "prorussische Kräfte", die ein Attentat auf ihn verüben wollten.

Der Polizeichef von Odessa sagte wenige Tage nach dem Vorfall, dass er die angeblichen Mordabsichten der Angreifer stark bezweifle und erklärte, dass Sternenko Feinde in den Reihen des Rechten Sektors hat. Offenbar wollten sie ihn durch diesen Angriff nur etwas "einschüchtern".

Sternenko ist Teil eines bestimmten 'Projekts', das hochgezüchtet wird", sagte der Polizeichef und langjährige Kriminalermittler Dmitri Golowin als "Privatperson" in einem Interview.

Dass Sternenko in Kiew hochrangige Gönner hat, wurde schnell klar. Die Pro-Maidan-Medien berichteten vom Anfang an wohlwollend über den "gesellschaftlichen Aktivisten", der den Angreifer infolge eines gescheiterten Attentats auf ihn aus Notwehr tötete. Der Generalstaatsanwalt Juri Luzenko und mehrere Rada-Abgeordnete setzten sich für ihn ein. Das zuständige Gericht wurde aus Odessa nach Kiew verlegt. Der ukrainische Sicherheitsdienst SBU übernahm die Ermittlung. Dann passierte zwei Jahre nichts, obwohl die polizeiliche Ermittlung schnell zu einem Bild der Tat kam, wonach Sternenko Kuznezow nicht aus Notwehr, sondern vorsätzlich getötet hat.

Doch dann, kurz nachdem die neue Generalstaatsanwältin Irina Wenediktowa den Posten übernommen hatte, kam Bewegung in den Fall. Zunächst jedoch ganz bizarr, als das Opfer der Messerattacke zum Verdächtigen und Sergei Sternenko zum Geschädigten erklärt wurden. Dann wurde die Ermittlung gegen den Verstorbenen aufgrund seines Todes eingestellt.

Erst am 11. Juni wurde Sergei Sternenko das erste Schreiben mit dem Verdacht der vorsätzlichen Tötung und des illegalen Besitzes von Stechwaffen vom SBU ausgehändigt. Zu diesem Zeitpunkt erlangte der 25-jährige "Aktivist" bereits ukraineweite Bekanntheit, zog sich Anzug und Brille an und wurde ein redegewandter Blogger. Hunderte seiner Anhänger belagerten tagelang das Gerichtsgebäude, bedrängten kritische Journalisten, zündeten Rauchbomben, verhöhnten und provozierten die Polizei sowie Beamte mit "Performances" und verbalen Beleidigungen. Es kam zu Tumulten. Die Protestler schrieben "Hände weg von Sternenko" und "Recht auf Verteidigung" auf ihre Plakate. Zur medialen Unterstützung des mutmaßlichen Täters schalteten sich nicht nur die Vertreter der nationalistischen Parteien "Stimme" oder "Europäische Solidarität", sondern auch Abgeordnete der Regierungspartei "Diener des Volkes" ein.

Dies ist ein historischer Fall. Für mich ist der Angriff auf Sternenko ein Angriff auf die Ukraine. Es ist ein Angriff auf einen der aktivsten Teilnehmer der 'Revolution in Würde'", sagte einer von Sternenkos Anwälten, der ihn auch aus politischer Überzeugung verteidigt.

Einmal erschien der Verdächtige mit einem T-Shirt mit dem Bild "Verhaftung und Enthäutung des korrupten persischen Richters Sisamnes" von Gerard David im Gerichtssaal. Trotzdem kam am 15. Juni der Gerichtsentscheid: Sternenko soll sich in Odessa unter Hausarrest begeben. Als Adresse war eine Militäreinheit angegeben. Sternenko und Hunderte seiner Anhänger zogen skandierend vor verschiedene Amtsgebäude im Zentrum Kiews, darunter vor das Haus der Staatsanwältin. Im Laufe der Aktion zerriss Sternenko vor der jubelnden Menge das Gerichtsschreiben und avancierte sich als Volkstribun.

Die Meinungen zum Fall Sternenko polarisieren sich. Während viele große Fernsehkanäle oder westlich finanzierte Medien Sternenko nach wie vor als "Aktivisten" bezeichnen und die Ermittlung kritisch hinterfragen, gibt es zahlreiche Internetmedien wie sharij.net und einige TV-Kanäle wie 112, die das Einknicken der Staatsmacht vor dem nationalistischen "Straßenzirkus" als Skandal betrachten. Einige Kommentatoren sehen in der Figur Sternenko den Versuch, eine neue charismatische Führungsperson für das komplette rechte Spektrum aufzubauen.

Der Fall Sternenko zeigt Parallelen bei den Ermittlungen zum Mord an dem bekannten ukrainischen Schriftsteller und Publizisten Oles Busyna im April 2015 sowie anderen unaufgeklärten Morden an öffentlichen Personen in der Ukraine. Der Schriftsteller äußerte sich kritisch zu den Maidan-Protesten und dem Krieg im Donbass und galt in nationalistischen Kreisen als "Pro-Russe". Zwei Ultra-Nationalisten und Mitglieder neonazistischer und paramilitärischer Organisationen, die der Tat verdächtigt werden, wurden gegen Kaution aus der Untersuchungshaft entlassen und von ihren Unterstützern als Helden gefeiert. Seit fünf Jahren zieht sich der Gerichtsprozess ohne jegliche Fortschritte hin, auch da üben die "Aktivisten" und Anwälte der Verdächtigen Druck auf Richter und die Justiz aus. Gesellschaftliche Ächtung gibt es nicht. So zog einer der mutmaßlichen Täter, Andrei Medwedko, sogar Ende 2019 als Mitglied in den Aufsichtsrat des Antikorruptionsbüros NABU.

Als "Stimme der Gesellschaft" werden in der Ukraine seit dem gewaltsamen Machtwechsel im Februar 2014 vor allem jene Stimmen wahr genommen, die für sogenannte "patriotische" Werte eintreten. Ihre Gewalttaten – darunter zählt auch verbale Gewalt gegen Andersdenkende oder Vertreter des Staates – werden von den Behörden kaum geahndet. Die Justiz arbeitet immer noch im Geist der nationalistischen Revolution von 2014. Dieses hat sich im Gesetz manifestiert, das Maidan-Aktivisten vor strafrechtlicher Verfolgung trotz begangener Verbrechen freistellt. Obwohl in den letzten Monaten die Stimmen immer lauter werden, die die Aufhebung dieses Gesetzes fordern, bleibt es nach wie vor von der Politik unangetastet.

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