von Dr. Karin Kneissl
Die EU-Kommission hat am Mittwoch einen Wiederaufbauplan von 750 Milliarden Euro vorgeschlagen. "Instrument für Wiederaufbau und Widerstandsfähigkeit" lautet das Kernstück des Plans, an dem ein Stab um EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wochenlang getüftelt hat.
Der Name verwirrt, denn bei allem Respekt für die Wucht der Gesundheitskrise und den globalen Lockdown: Wir hatten keinen Krieg, auch wenn einige Regierungschefs gerne die Metapher des Kriegs bedienten. Wer hier von Krieg spricht, ignoriert die Geschichte. Wir haben aber auch keine klare Zäsur für ein Ende der Pandemie und den Neustart. Darin sehe ich den Knackpunkt. Wir befinden uns in einem gewaltigen Limbo, irgendwo zwischen Quarantäne, Einkommensverlust, persönlichen Lebensdramen und der größten Rezession seit 1929.
Vielmehr ist es ein nie dagewesenes Konjunkturprogramm für die europäische Wirtschaft. Es soll Teil des siebenjährigen EU-Haushalts von 2021 bis 2027 werden, der, nach den Vorstellungen der Kommission, zusätzlich zu den Konjunkturhilfen einen Umfang von insgesamt 1.850 Milliarden Euro haben soll.
Er soll vor allem stark von der Pandemie getroffene Länder wie Italien und Spanien unterstützen, die kaum nationale Haushaltsspielräume haben, um eigene Konjunkturprogramme zu starten. Zwei Drittel der Mittel stehen dabei als nicht rückzahlbare Zuschüsse zur Verfügung, der Rest als Kredite.
Zur Finanzierung will die EU-Kommission Schulden auf den Finanzmärkten in beispielloser Höhe aufnehmen. Dazu ist aber eine Ermächtigung durch die Mitgliedsstaaten nötig. Abrufbar sollen die Gelder ab dem 1. Januar 2021 und begrenzt bis Ende 2024 sein.
Es geht wieder um den Euro
Vorangegangen war die Präsentation des Macron-Merkel-Plans, der bereits 500 Milliarden Euro als Zuwendungen an die besonders hoch verschuldeten EU-Partner vorsieht. Es ist ein Paradigmenwechsel in Berlin, wo diesmal klar Schuldenmachen befürwortet wird. Denn letztlich profitieren die Gläubiger, wenn Italien und Spanien gerettet werden; es geht aber bei dem Plan um ein Überleben der EU. Denn es ist auch ein Déjà-vu der Euro-Krise von 2010 rund um Griechenland.
Ein meines Erachtens völlig deplatzierter Begriff der "Peripherie Staaten" wurde fortan in Wirtschaftsanalysen verwendet. Denn in der vermeintlichen Peripherie am Mittelmeer war immerhin einst Europa geistig und politisch entstanden. Doch ein Nord-Süd-Graben vertiefte sich zwischen wachsenden Schuldenbergen. Und dieser sollte in den Köpfen bleiben. Bei so mancher Fonds-Veranstaltung, die ich 2014/15 in Deutschland besuchte, um über Energieversorgung zu sprechen, wurde mir eines klar: Der skeptische Blick des sparsamen Nordens auf den "verschwenderischen" Süden verfestigte sich. Wird Brüssel beziehungsweise Berlin nun mit Rom und Madrid so umgehen, wie zuletzt mit Athen? Wohl kaum!
Vor der Pandemie beliefen sich die Verpflichtungen Roms auf ein Viertel der öffentlichen Schulden in der Eurozone. Eine Zahlungsunfähigkeit der drittgrößten Volkswirtschaft der EU ist ein viel größeres Problem als es Griechenland je war. Italien ist "too big too fail". Die Ratingagentur Fitch stufte Italien indes auf "BBB-" herab, knapp über Schrottniveau. In der Folge dürfen gewisse institutionelle Anleger nicht mehr investieren. "Italiens Schuldenberg wird zur Gefahr für die Eurozone", so die Neue Zürcher Zeitung, denn die Staatsverbindlichkeiten wachsen auf über 2.500 Milliarden Euro.
Schuldner sind vor allem italienische Banken. Der Rettungsplan der Kommission will nun abwenden, dass es zur Implosion kommt, denn eine solche würde alle treffen. Der Schlüssel, den die Kommission erarbeitet hat, sieht vor, dass insgesamt 300 Milliarden Euro nach Italien und Spanien fließen sollen. Vor allem die mittel- und osteuropäischen Staaten dürften darauf drängen, nicht vergessen zu werden. Es stellt sich die banale Frage: Woher soll all das neue Geld kommen?
Brüssel will selbst Steuern erheben
Zum einen sollen Darlehen auf den Finanzmärkten aufgenommen werden, wobei stets auf das niedrige Zinsniveau verwiesen wird, zum anderen soll auch fiskalpolitisch gehandelt werden: übernationale Steuern sollen möglich werden. Geldpolitisch hatte die Europäische Zentralbank unter Mario Draghi nach dem Motto "whatever it takes" fast alles ausgeschöpft. Seine Nachfolgerin Christine Lagarde plante hier eine Volte, doch ihre Diagnose ist düster.
Nun geht es um den Ausbau von Emissionshandelssystemen, eine seit Jahren diskutierte Digitalsteuer sowie eine CO2-Grenzsteuer, ein Ausgleichsmechanismus für billige, klimaschädliche Produkte aus dem Ausland. Eine solche Steuer könnte einen Handelskrieg lostreten. Zudem ist von einer Plastikabgabe die Rede. Die deutsche Tageszeitung Die Welt sprach in einer ersten Reaktion von "Phantomsteuern". Denn solche Eigenmittel entlasten nicht die nationalen Haushalte. Es gibt immer nur den einen Steuerzahler, auf den der Staat zugreift.
Angesichts der schweren Existenznot vieler Mittelstandsunternehmen, die das Rückgrat so mancher Volkswirtschaft bilden, ist eine weitere Steuerlast fragwürdig. Was die Bürger, aber auch die Unternehmen nun brauchen, sind Entlastungen. Zudem gilt der alte Spruch "No taxation without representation". Wie vertreten fühlen sich die Steuerzahler durch die Kommissare? Hinzu kommt das Unbehagen vieler Menschen, vor allem der Selbstständigen, dass ihre Regierungen sie in dieser Krise im Stich gelassen haben.
Kritiker und die Verhandlungsmasse
Die fiskalisch konservativen Mitgliedsstaaten Dänemark, Schweden, die Niederlande und Österreich – in Brüssel die "Sparsamen Vier" genannt – forderten hingegen, dass die Milliarden Euro als Kredite vergeben werden sollten, die zurückgezahlt werden müssen. Von der Leyen schlägt jetzt vor, dass 500 Milliarden Euro als Transfers in die am stärksten betroffenen Länder fließen und 250 Milliarden als Kredite – ein europäischer Kompromiss mit offenen Fragen. Darüber entscheiden müssen die Staats- und Regierungschefs – bis spätestens September.
EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn warnt vor einem Scheitern der Ratifizierung des Coronavirus-Hilfsplans. Die EU-Kommission könne die notwendigen Gelder erst aufnehmen, wenn alle Parlamente der 27 EU-Länder zugestimmt haben. In Ländern wie Belgien könne das auch die Billigung durch regionale Parlamente bedeuten. "Es gibt keinen Plan B, wenn ein Parlament nicht ratifiziert," so der Österreicher Hahn. Die kommenden Verhandlungen werden daher zum europapolitischen Balanceakt mit ungewissem Ausgang. Es müssten künftig rund 17 Prozent des jährlichen Budgets in den Schuldendienst fließen. So etwas kennt man sonst nur von hoch verschuldeten Volkswirtschaften.
"Jede europäische Generation hat ihre eigene Geschichte", sagte Ursula von der Leyen bei der Vorstellung ihrer Pläne im Europäischen Parlament. Deshalb solle diese Kraftanstrengung "Next Generation EU" heißen. Für viele junge Menschen stellt sich aber in diesen Tagen vor allem die Frage: Unter welchen Bedingungen funktionieren die Schulen und Unis, sind Praktika möglich, warum bedroht einen trotz Leistung die Arbeitslosigkeit?
Die vorherigen Generationen konnten sich auf mehr Sicherheit und mehr Europa verlassen.
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