Im Januar 2020 reiste der selbsternannte venezolanische "Interimspräsident" Juan Guaidó nach London, um sich mit britischen Regierungsvertretern zu treffen und Unterstützung für seine bisher erfolglosen Bemühungen zum Sturz der venezolanischen Regierung zu gewinnen. Regierungsdokumente, die im Rahmen des "Gesetzes zur Informationsfreiheit" (Freedom of Information Act) freigegeben werden mussten, enthalten Einzelheiten über Guaidós Besuch und geben Aufschluss über die Existenz einer geheimgehaltenen Spezialeinheit innerhalb des britischen Außenministeriums, die sich dem "Wiederaufbau" Venezuelas widmet.
Bei seinem Besuch traf Guaidó mit Außenminister Dominic Raab, dem für den amerikanischen Kontinent verantwortlichen Staatssekretär Christopher Pincher, Hugo Shorter, dem Leiter der "Amerika-Abteilung" sowie mit den Leitern der entsprechenden Unterabteilungen des britischen Außenministeriums für den Andenraum und Venezuela zusammen. Das Treffen mit diesem Personenkreis war auch öffentlich bekannt. In den nun freigegebenen Protokollen des Treffens steht allerdings noch ein weiterer Teilnehmer, "John Saville, Leiter der Einheit zum Wiederaufbau Venezuelas".
Die Existenz dieser Einheit war bisher nicht bekannt. Weder in den Organigrammen auf der Webseite des britischen Außenministeriums noch in den biographischen Angaben zu Saville, welcher von 2014 bis 2017 als britischer Botschafter in Caracas agierte, wird die Existenz dieser Einheit erwähnt.
Auf die Frage britischer Medien, welchem Zweck die "Wiederaufbaueinheit" dient und warum deren Existenz bisher nicht enthüllt worden sei, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums ausweichend:
Das Vereinigte Königreich ist entschlossen, mit internationalen Partnern zusammenzuarbeiten, um die schreckliche Krise in Venezuela zu beenden. Die Abteilung für den Wiederaufbau Venezuelas wurde im Herbst 2019 eingerichtet, um einen britischen Ansatz für die internationalen Bemühungen zur Bewältigung der katastrophalen wirtschaftlichen und humanitären Lage in Venezuela zu koordinieren.
Saville, britischer Topdiplomat und ehemaliger Botschafter in Venezuela, war die zentrale Figur bei der Organisation des Besuchs von Guaidó in Großbritannien und anderen europäischen Ländern im Januar 2020. Zu diesem Zeitpunkt liefen die Planungen für einen gewaltsamen Einmarsch US-amerikanischer und venezolanischer Söldner in Venezuela auf Hochtouren. Dieser Plan wurde nach Angaben des zuständigen Organisators der Invasion, des US-Söldners und Leiters der US-Sicherheitsfirma Silvercorp USA, von Guaidó höchstpersönlich unterzeichnet. In dem der Washington Post zugespielten und von dieser auch verifizierten Vertrag wird Guaidó als "Oberbefehlshaber" der gesamten Operation genannt und auch bei dieser Vertragsversion erscheint dessen Unterschrift:
Die Existenz dieser britischen Einheit wirft auch eine grundlegendere Frage auf: Was hat die britische Regierung mit dem "Wiederaufbau" einer souveränen Nation zu tun? Die bisherigen Ergebnisse und Erfahrungen mit britischen Vorstellungen von "Wiederaufbau" im Irak, in Afghanistan, Libyen und Syrien lassen diesbezüglich nichts Gutes erwarten.
Eine weitere Anfrage im Rahmen des "Freedom of Information Act" legt die sehr aufschlussreichen Gespräche zwischen der Vertreterin von Juan Guaidó in Großbritannien, Vanessa Neumann, mit britischen Regierungsbeamten offen.
So schrieb Neumann beispielsweise am 30. Mai 2019 an Beamte des britischen Außenministeriums:
Ich habe mich bereits an Rory Stewart beim DFID [Department for International Development] bezüglich eines Treffens gewandt, welches auch hilfreich sein wird für die britischen Geschäfte beim Wiederaufbau Venezuelas.
Dies deutet auf das eigentliche Wesen des britischen "Wiederaufbaus" von Venezuelas hin: Die Schaffung günstiger Bedingungen für britische Unternehmen. Und es liegt wohl ziemlich auf der Hand, wie die Interessen der "britischen Wirtschaft" in einem Land aussehen, das über die mutmaßlich größten nachgewiesenen Ölreserven der Welt verfügt.
Doch es geht nicht nur um Öl. Im September 2019 wurde ein vertrauliche Sprachnachricht der Guaidó-Vertreterin mit Guaidós "Koordinator für Internationale Angelegenheiten", Manuel Avendaño, veröffentlicht. Neumann erklärt darin, dass ihr britische Regierungsbeamte sehr deutlich zu verstehen gegeben haben, dass es keine vollumfängliche politische Unterstützung durch Großbritannien für Guaidó und dessen Umsturzpläne geben wird, solange nicht der bisher offiziell formulierte Anspruch auf die umstrittene Region Essequibo aufgeben wird. Neumann empfiehlt, dem britischen Wunsch Folge zu leisten, und den territorialen Anspruch im Austauch für politische Unterstützung aufzugeben. Dieses Vorgehen würde in wohl fast allen Ländern der Welt den Tatbestand des Landesverrats erfüllen.
Bei der Region Essequibo handelt es sich um einen 160.000 Quadratkilometer großen Landstreifen an der Grenze zwischen Venezuela und Guyana. Dieses Gebiet wurde im Jahr 1889 vom damaligen britischen Kolonialregime durch ein umstrittenes Schiedsabkommen, bei dem keine venezolanischen Unterhändler anwesend waren, Venezuela weggenommen. Das Urteil wurde später durch das von der UN vermittelte "Genfer Abkommen", das 1966 von allen Parteien unterzeichnet wurde, aufgehoben. Völkerrechtlich gehört die Region damit nicht nur nach venezolanischer Einschätzung zu Venezuela.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Existenz der geheimgehaltenen "Wiederaufbaueinheit" innerhalb des britischen Außenministeriums in Verbindung mit den dargelegten Gesprächen aufzeigen, in welchem Ausmaß die britische Regierung sich proaktiv für den Sturz der venezolanischen Regierung unter Nicolás Maduro einsetzt.
Die veröffentlichten Dokumente zeigen zudem auf, dass die "Regime-Change-Pläne" in Venezuela einem erprobten Muster folgen: Die Länder, die diesbezüglich den "größten Beitrag" leisten, können damit rechnen, dass ihnen in der "Wiederaufbauphase" die größten Filetstücke der finanzielle Beute zugeschoben werden. Nach allem was man weiß, will auch Deutschland da nicht zu kurz kommen.
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